Ein jüdischer Hamlet in der Midlife-Crisis

© Fischer Taschenbuch Verlag

Was bleibt von Saul Bellow zwanzig Jahre nach seinem Tod? Sein Roman Herzog über einen mit sich und der Welt ringenden jüdisch-amerikanischen Intellektuellen galt einst als wichtiges Werk der US-Literatur nach 1945. Trotz mancher Zeitgebundenheit in der Darstellung beeindrucken nach wie vor die bestechende Mischung aus Satire und Tragödie, die introspektive Figurenzeichnung und ein bilderreicher, assoziativer Erzählstil.

Als Saul Bellow vor zwanzig Jahren, am 5. April 2005, im Alter von 89 Jahren verstarb, gab es noch einmal Elogen. Man pries ihn als einen der wichtigsten US-Autoren des 20. Jahrhunderts, als neben Bernard Malamud und Philip Roth wichtigste jüdisch-amerikanische Stimme der Literatur nach 1945, als Erneuerer des amerikanischen Romans, der seine Heimatstadt Chicago überhaupt erst auf die literarische Landkarte gebracht hatte. Aber wie das so ist, Heiligsprechungen verblassen rasch.

Ein fast Vergessener?

Heute ist der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1976 fast vergessen – zumindest im deutschsprachigen Raum, wo er zu Lebzeiten stets recht hohe Auflagen und begeisterte Kritiken verzeichnen konnte. Vor allem der berühmt-berüchtigten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat sich hierzulande intensiv um Bellows Werk bemüht. Inzwischen sind die meisten seiner Romane, Erzählungen und Essays auf Deutsch vergriffen.

Doch auch in seinem Heimatland USA will man von Bellow nicht mehr allzu viel wissen. Er gilt als Autor von gestern, als Prototyp des Alten Weißen Mannes, der zu lange den Diskurs dominierte und den man heute nicht mehr zu lesen braucht. Seine flapsigen, herablassenden Äußerungen über Multikulturalismus und nicht-westliche Literatur haben seinem Denkmal geschadet. Einst als wichtiger linksliberaler Intellektueller gefeiert, stempelte man Bellow am Ende seines Lebens als konservativ, ja reaktionär ab.

Intellektueller in der Krise

Aber schauen wir noch einmal genauer hin, schauen wir uns seinen Roman Herzog aus dem Jahr 1964 an, mit dem er endgültig berühmt wurde und der bis heute als eines seiner drei Meisterwerke gilt (neben The Adventures of Augie March, 1954, und Humboldt’s Gift, 1975). Erzählt wird die Geschichte des Chicagoer Literaturwissenschaftlers Moses Herzog, der mit Ende 40 in einer ernsten Lebenskrise steckt. Seine zweite Ehe mit Madeleine ist zerbrochen, nach dem sie ihn mit seinem Freund Valentine Gersbach betrogen hat. Die Beziehung zu Ramona bleibt unentschlossen; er weiß nicht recht, ob er die Freundin wirklich liebt und vielleicht sogar ein drittes Mal heiraten möchte. Auch Herzogs akademische Karriere stagniert, und er zweifelt schwer an der Relevanz seiner Arbeit.

Herzogs Bewältigungsstrategie besteht darin, zahlreiche Briefe zu schreiben, die er an verschiedenste Adressaten richtet: an lebende und tote Persönlichkeiten, Freunde, Feinde, Politiker, an Philosophen wie Spinoza, Nietzsche, Heidegger, und an Gott. Diese Briefe, von denen die meisten nicht abgeschickt werden, dienen als Ventil für seine existenziellen Ängste, das Gefühl des Versagens und seine intellektuellen Zweifel. Zusammen mit Herzogs Erinnerungen, Beobachtungen und Monologen bilden sie ein assoziatives Erzählgeflecht, eine Collage, die viele verschiedene Tonlagen – von polemisch über verzweifelt bis hin zu burlesk– kunstvoll miteinander verwebt.

Foto von Álvaro Serrano auf Unsplash
Scharfer Witz, stereotypes Frauenbild

Die ständigen Abschweifungen und Reflexionen lassen die Handlung oft in den Hintergrund treten und geben viel Raum für Bellows scharfen Witz, seine ironischen Beobachtungen und eine differenzierte, außerordentlich detailreiche Charakterzeichnung. Doch die Dichte der Sprache, die Vielzahl an kulturellen und literarischen Anspielungen sowie die komplexe Innenwelt des Protagonisten erfordern vom Leser ein nicht geringes Maß an Aufmerksamkeit und Ausdauer.

Dies gilt umso mehr, da Moses Herzog sechzig Jahre später nur noch bedingt als zeitgemäßer Charakter erscheint. Haben wir nicht mittlerweile genug Romane über weiße, privilegierte Männer in der Midlife-Crisis gelesen? Der Einwand mag umso berechtigter erscheinen, wenn man die Frauenfiguren in Herzog in den Blick nimmt. Sie werden beinahe durchgehend als manipulative, untreue oder gefühlskalte Charaktere gezeichnet, die Herzogs Unsicherheiten und Leiden vergrößern. Madeleine, seine zweite Frau, wird als intellektuell ehrgeizig, aber zugleich grausam und berechnend dargestellt; sie hintergeht Herzog nicht nur emotional, sondern demütigt ihn auch gesellschaftlich.

Wenig positiv erscheint auch Herzogs frühere Ehefrau Daisy, die als pragmatisch und gefühlsarm geschildert wird. Seine Affäre mit Ramona hingegen wirkt stellenweise klischeehaft und flach, als Wunschbild sinnlicher Zuflucht, nicht aber als gleichberechtigte Beziehung. Frauen dienen im Roman häufig als bloße Projektionsfläche für die Unsicherheiten, Ängste und Begierden der Hauptfigur, was eine gewisse Einseitigkeit in der Darstellung offenbart. Zwar lässt Bellow auch differenziertere weibliche Stimmen aufscheinen, doch insgesamt bleibt das Frauenbild stark von der Perspektive Herzogs geprägt und wirkt aus heutiger Sicht eher stereotyp und gestrig.

Chicago, die Heimat von Saul Bellow und seiner Figur Moses Herzog. Foto von Chris Dickens auf Unsplash
Identitätssuche als Jude und Amerikaner

Ein zentraler Aspekt des Romans ist die Auseinandersetzung mit jüdischer Identität, die weniger explizit als in anderen Werken jüdisch-amerikanischer Autoren, aber dennoch tiefgreifend verhandelt wird. Herzog stammt aus einer jüdischen Einwandererfamilie, deren Geschichte von Armut, Migration und Anpassungsdruck geprägt ist. Seine intellektuellen Zweifel, seine Suche nach moralischer Integrität und seine Bindung an die Traditionen seiner Kindheit spiegeln einen inneren Konflikt zwischen säkularem Denken und religiös-kulturellem Erbe wider. Diese Spannung ist typisch für das Werk Bellows, das sich immer wieder mit der Frage befasst, wie sich jüdische Identität in einer modernen, pluralistischen und immer brüchiger werdenden Gesellschaft behaupten lässt. Herzog ringt mit seinem Platz in dieser Welt – als Jude, als Amerikaner, als Intellektueller – und bringt damit eine universelle Erfahrung von Zugehörigkeit und Entfremdung zum Ausdruck: „Ich bin nicht von dieser Welt. Ich bin ein Relikt aus der alten Welt. Ich bin der letzte Jude.“

Mit dieser Thematik verbunden ist die Rolle der Philosophie im Roman. Bellows Werk ist durchdrungen von philosophischen Bezügen, die jedoch nicht bloß der intellektuellen Dekoration dienen, sondern Ausdruck von Herzogs Ringen mit Fragen nach Sinn, Moral, Verantwortung und Wahrheit sind. Philosophie ist für Moses Herzog kein abstrakter Diskurs, sondern existenzielle Notwendigkeit – und zugleich eine Quelle ständiger Überforderung. Seine Auseinandersetzungen mit Denkern wie Kant, Heidegger, Kierkegaard oder Spinoza demonstrieren seine verzweifelte Suche nach einem kohärenten Weltbild in einer zersplitterten Wirklichkeit.

Flucht vor der Wirklichkeit

„Man kann nicht leben, indem man immer nur denkt“, schreibt Herzog in einem seiner Briefe, und diese Erkenntnis ist für ihn so befreiend wie quälend. Ohnmächtig muss Herzog erfahren, wie es ihm trotz seiner enormen Bildung nicht gelingt, das Leben zu ordnen oder eine befriedigende Handlungsperspektive zu entwickeln. Die Philosophie wird damit ambivalent dargestellt – als Quelle tiefer Einsicht, aber auch als Flucht vor der Realität. In einem Moment der Klarheit erkennt Herzog: „Was ich brauchte, war nicht Wahrheit, sondern Leben.“ Wie bei Shakespeares Urbild des zaudernd-weltfremden Intellektuellen Hamlet ist es auch hier der „pale cast of thought“, der verhindert, dass Denken und Wollen eine produktive Tätigkeit in Gang setzen.

So universell die detailliert und eindringlich verhandelten Themen Identitätskrise, männliche Unsicherheit und intellektuelle Autoreflexion auch sein mögen – die Darstellung wirkt oft arg selbstmidleidig und egozentrisch. Herzog erscheint als Gefangener seiner eigenen Gedankenspiralen, unfähig, aus seinen Fehlern zu lernen oder neue Perspektiven zu entwickeln.

Bei aller sprachlichen Meisterschaft und psychologischen Tiefe stellt diese exuberante männliche Selbstbespiegelung die Geduld des Leser zwischenzeitlich durchaus auf die Probe (und die der Leserin vermutlich erst recht). Dass Bellows Prosa dennoch meilenweit über der Nabelschau etwa eines Martin Walsers rangiert und auf jeder Seite mehr Witz, Klugheit und erzählerisches Können entfaltet als ganze Romane des Provinzlers vom Bodensee, mag trösten.

Saul Bellow im Jahr 1964 (Foto: Jeff Lowenthal, public domain).
Bahnbrechende Wirkung

Auch darf man Bellows bahnbrechende und anhaltende Wirkung auf die jüdisch-amerikanische Literatur nicht unterschätzen. So ist etwa der Einfluss auf seinen früheren Protegé Philip Roth immens: Roths Protagonisten – etwa Alexander Portnoy aus Portnoys Beschwerden (1969) oder Nathan Zuckerman aus den späteren Romanen – teilen mit Moses Herzog die Introspektion, das intellektuelle Hadern und das Spannungsverhältnis zu Frauenfiguren. Doch während Bellow seinen Helden mit einer gewissen melancholischen Würde und moralischer Komplexität zeichnet, entwirft Roth oft provokanter und expliziter die Neurosen seiner Figuren, insbesondere in Bezug auf Sexualität, Schuld und jüdische Identität. Roths Werke sind bissiger, zynischer und stellen die männliche Krise oftmals noch drastischer dar.

Auch Joshua Cohen steht in jener literarischen Tradition des jüdisch-amerikanischen Bildungsromans, die Bellow maßgeblich mitgeprägt hat. In seinem Roman Buch der Zahlen (2015) etwa findet man, ähnlich wie in Herzog, einen ständigen Fluss innerer Monologe, Gedankensprünge und philosophischer Anspielungen. Cohens Figuren – ob der namenlose Erzähler im Buch der Zahlen oder Ruben Blum in Die Netanjahus (2021) – sind oft hochgebildet, aber vom Zweifel zernagt und unfreiwillig komisch. Wie Bellows Charaktere sind sie Getriebene des Denkens, ironische Beobachter und melancholische Chronisten ihrer Zeit.

Bellows zahlreiche Spuren lassen sich also bis in die unmittelbare Gegenwart der US-Literatur verfolgen. Und trotz aller Zeitgebundenheit, trotz allen Staubs, der sich über die Jahrzehnte auf dem Roman abgelagert hat, erweist sich Herzog von bemerkenswerter Gegenwartsnähe. Nicht als unmittelbares Abbild, sondern als Spiegel der Grundspannung moderner Subjektivität: zwischen Selbstsuche und Weltverlust, zwischen intellektueller Tiefe und praktischer Unbeholfenheit. In Zeiten zunehmender Komplexität, fragmentierter Identitäten und psychischer Überforderung bleibt Bellows Roman nicht nur lesenswert, sondern diskursiv hochaktuell.

Saul Bellow: Herzog. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Walter Hasenclever, überarbeitet von Bärbel Fläd. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011. 496 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-17870-4 (vergriffen, nur antiquarisch erhältlich).

Kommentar verfassen