Das Leben des Anderen

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Auf den Spuren von Patricia Highsmith: In First Class von Antoine Wilson rettet der Student Jeff den reichen Kunsthändler Arsenault erst vor dem Ertrinken, um sich anschließend in sein Leben zu schleichen. Doch dann verstrickt sich Jeff immer tiefer in Arsenaults dubiose Machenschaften, bis es irgendwann zu spät ist.

Das Konstrukt von Antoine Wilsons Roman First Class erscheint durchaus vielversprechend: Zufällig begegnet der namenlose Erzähler, von Beruf Schriftsteller, am Flughafen seinem ehemaligen Kommilitonen Jeff Cook. Aus dem etwas versumpften Studenten ist Jahrzehnte später ein erfolgreicher Kunsthändler geworden, wohlhabend und ein wenig zwielichtig.

Seltsame Obsession

Weil der Flug Verspätung hat, setzen sich die beiden Männer in die First-Class-Lounge, wo Jeff zwischen Häppchen und einigen alkoholischen Getränken dem Erzähler von einem merkwürdigen Erlebnis und seinen lebensverändernden Folgen erzählt: Noch als Student rettet Jeff eines Tages am Strand von Kalifornien zufällig einen Fremden vor dem Ertrinken. Erschüttert von der Erfahrung, in ein anderes Leben so drastisch eingegriffen zu haben, entwickelt Jeff eine seltsame Obsession: Er muss um jeden Preis wissen, wen er da gerettet hat. Es geht ihm nicht bloß um dessen Identität, sondern vielmehr um die Frage: Verdient der andere überhaupt mein Eingreifen? Ist er ein guter Mensch, der aus seinem Weiterleben etwas Anständiges macht?

Nach kurzer Recherche findet Jeff den Gesuchten: Es handelt sich um Francis Arsenault, einen reichen Galeristen, der sich offenbar an seinen Retter nicht erinnern kann und in dessen Leben sich Jeff nach und nach schleicht. Eher zufällig erhält Jeff in der Galerie einen Job, beginnt eine Beziehung mit Arsenaults gleichaltriger Tochter Chloe und steigt rasch auf. Schon bald merkt er allerdings, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht: Arsenault behandelt seine Angestellten schlecht, er ist aggressiv und cholerisch, und als Kunsthändler obendrein ein krimineller Betrüger. Doch Jeff findet keinen Absprung mehr. Immer tiefer wird er in die dubiosen Umtriebe Arsenaults hineingezogen, bis es zu spät ist.

Abgründe unter der glänzenden Oberfläche

Das alles wäre Stoff für einen wirklich guten, intelligenten Thriller in der Tradition Patricia Highsmiths, und tatsächlich erinnert Wilsons Protagonist Jeff Cook immer wieder an die Figur Tom Ripley. Wie dieser schleicht sich Jeff halb zufällig, halb willentlich in ein fremdes Leben und entdeckt unter der glänzenden Oberfläche dunkle Abgründe, in die er dann selbst hineinstürzt. Doch leider löst die Erzählweise das Versprechen des Plots nicht ein. Zu skizzenhaft bleiben die Figuren, zu blaß die Details, zu konventionell und flach die Sprache.

Francis Arsenault etwa entpuppt sich als recht banaler Bösewicht, dessen angebliche Ausstrahlung nicht glaubwürdig wirkt. Wo ist das Schillernde, wo die faszinierende Kehrseite des Charakters? Auch der Hintergrund, die extravagante Kunstszene der amerikanischen Westküste, wirkt eher lieblos porträtiert. Alles entspricht hier dem Klischee: Es wimmelt von reichen, dekadenten Sammlern mit viel Geld und wenig Kunstverstand, raffgierigen Händlern und jungen, halbbegabten Künstlerinnen, die bereit sind, mit Sex etwas Ruhm zu erkaufen. Man muss gar nicht hochgreifen und Siri Hustvedts Die gleißende Welt oder gar William Gaddis postmodernen Klassiker Die Fälschung der Welt bemühen, um zu entlarven, mit welcher Einfalt und Einfallslosigkeit Wilson laboriert – auch Highsmith hat in ihrem zweiten Ripley-Roman Ripley Under Ground die zweifelhaften Machenschaften der Kunstszene genauer und raffinierter dargestellt.

Figuren fehlt es an Lebendigkeit und Tiefe

Weitgehend verloren geht beim Erzählen auch das Potenzial der eigentlich spannenden Figurenkonstellation. Jeff sieht in Francis Arsenault sein mögliches zukünftiges Ich gespiegelt. Er wird ihm, ohne es recht zu wollen, im Verlauf der Handlung immer ähnlicher. Doch dieses verwickelte Nähe-Distanz-Verhältnis wird sprachlich nicht recht plastisch gemacht – auch, weil es beiden Figuren letztlich an Lebendigkeit und Tiefe fehlt. Das gilt nicht nur für Arsenault, sondern auch für Jeff, der recht rasch als unzuverlässiger Erzähler markiert wird. Inwieweit kann man Jeffs nachträglicher Selbstbeschreibung trauen? Ist er wirklich der anfangs naive, ambitionslose Student, dem alles zustößt und der nichts anstrebt? Ist sein Bericht dem Erzähler des Romans gegenüber nicht ein Versuch, seine Vergangenheit, seinen Werdegang im Nachhinein zu idealisieren?

Es hätte einen besseren Autor als Antoine Wilson gebraucht, um die in diesem Stoff angelegte Doppelbödigkeit herauszupräparieren. So ist First Class ein zwar leidlich spannender, stark handlungsgetriebener Unterhaltungsroman, der philosophische Tiefe und literarische Komplexität jedoch nur vortäuscht.

Antoine Wilson: „First Class“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Eva Regul. Kein und Aber Verlag, Zürich/Berlin 2023. 256 Seiten, Hardcover. ISBN  978-3-0369-5002-0.

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