Vergebliches Warten

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Aus einem Filmskript des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt über einen Kindermörder macht das Nachkriegskino den Krimi Es geschah am hellichten Tag. Doch der Autor ist mit der Leinwandversion seiner Idee nicht ganz einverstanden. Er schreibt einen Roman, der statt des optimistischen Endes eine dunklere Geschichte erzählt. Das Versprechen zeigt, wie sich unser Glaube an Gerechtigkeit und die Kohärenz der Welt als brüchige Fiktion erweist.

Das ‚Buch zum Film‘ ist ein dubioses Genre, auf jeden Fall kommt dabei in den seltensten Fällen so etwas wie Literatur heraus. Es gibt aber doch Ausnahmen. Etwa dann, wenn ein Schriftsteller ein Filmskript verfasst hat, mit dem fertigen Film aber nicht ganz einverstanden ist und nun einen Roman schreibt, um die Geschichte ganz anders und viel tiefsinniger erzählt. Dann lohnt nicht nur die Lektüre, sondern auch der Vergleich.

Ein schwieriges Thema

Im Mai 1957 bekommt der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt den Auftrag, ein Skript für einen Kriminalfilm zu liefern. Das schwierige Thema lautet: Sexualverbrechen an Kindern. Dürrenmatt ist da schon berühmt, er hat im vorigen Jahr mit seinem Stück Der Besuch der alten Dame einen Welterfolg feiern können, und auch als Krimiautor ist er zu Ruhm gelangt. Die als Gelegenheitsarbeiten verfassten Romane um Kommissar Bärlach, Der Richter und sein Henker und Der Verdacht, sind begeistert besprochen worden und haben sich glänzend verkauft. Dürrenmatt willigt in die Idee ein; nun also ein Skript für einen Film.

Doch es dauert, bis aus der Vorlage ein fertiger Kinostreifen wird. Der ursprünglich vorgesehene Regisseur Wolfgang Staudte steht plötzlich nicht mehr zur Verfügung, ebensowenig Martin Held, der die Hauptrolle spielen sollte. Ein neues Team findet sich. Heinz Rühmann springt als Darsteller ein, Regie führt der Ungar Ladislao Vajda. Rühmann, ein Star seit der NS-Zeit und eine Stütze des frühen bundesrepublikanischen Kinos, redet bei der Drehbuchentwicklung gehörig mit, Dürrenmatts Ursprungsentwurf wird erheblich verändert.

Matthäi zweifelt

Und doch ist der Film mit dem Titel Es geschah am hellichten Tag, der im Sommer 1958 in die Lichtspielhäuser kommt, einer der außergewöhnlichsten deutschen Nachkriegsfilme und bis heute sehr sehenswert. Rühmann spielt Oberleutnant Matthäi, einen Zürcher Kriminalkommissar, der kurz davor steht, seine Stellung in der Schweiz aufzugeben. Er ist nach Jordanien abgeordnet worden und soll beim Aufbau der dortigen Polizei helfen. An einem seiner letzten Arbeitstage wird er noch einmal zu einem Verbrechen gerufen: Der Hausierer Jacquier hat im Wald die Leiche der siebenjährigen Gritli Moser entdeckt. Rasch stellt sich heraus: Es handelt sich um Mord, das Verbrechen ähnelt zwei anderen Kindermorden, die in den benachbarten Kantonen vor einigen Jahren verübt worden sind.

Matthäi muss die Eltern Gritlis informieren. Die Mutter nimmt ihm eindringlich das Versprechen ab, den Mörder um jeden Preis zu finden. Doch der Kommissar kann nicht mehr viel tun, er übergibt den Fall seinem bisherigen Assistenten. Dieser findet rasch den vermeintlichen Schuldigen: Jacquier selbst soll der Täter sein, unter strengem Verhör gesteht er die Morde, doch dann erhängt sich der Hausierer in seiner Zelle. Der Fall wird geschlossen. Matthäi zweifelt, er glaubt nicht an die Schuld des Mannes. In buchstäblich letzter Sekunde bricht er seine Reise ab, entschlossen, sein  gegebenes Versprechen doch noch zu halten. Aus dem alten Job aber ist er raus und die Vorgesetzten in Zürich winken ab: Der Täter sei gefunden, alle weiteren Untersuchungen bloße Zeitverschwendung.

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Die Falle schnappt zu

Matthäi ermittelt nun auf eigene Faust. Anhand einer Zeichnung Gritlis, in der er verschlüsselt die Begegnung des Kindes mit seinem zukünftigen Mörder zu erkennen meint, rekonstruiert Matthäi den Zusammenhang aller drei Taten. Der Mörder muss ein großer Mann mit dunklem Auto sein, der sich regelmäßig auf der Fernverkehrsstraße zwischen Chur und Zürich bewegt. Er lockt die Mädchen an, erschleicht sich mit Schokolade und märchenhaften Geschichten ihr Vertrauen, um sie dann nach einiger Zeit grausam zu töten.

Nun konstruiert Matthäi eine Falle: Er mietet eine Tankstelle direkt an der Straße und stellt eine Haushälterin ein, die alleinerziehende Frau Heller, deren kleine Tochter Annemarie genau ins Opferschema des Mörders passt. Frau Heller ahnt zunächst nichts davon, dass ihr Kind als Köder benutzt wird, und beinahe geht die Sache auf tragische Weise schief. Doch letztlich schnappt die Falle zu: Der Mörder wird gefasst, Matthäi triumphiert. Abblende.

Müssen Krimis überhaupt funktionieren?

Was hatte Dürrenmatt an dem Film auszusetzen? Zunächst missfiel ihm die Darstellung des Kommissars durch Heinz Rühmann, der ihm zu glatt war, zu bürgerlich, zu kontrolliert, zu wenig Getriebener. Dann die Auflösung des Falles, der unvermeidliche und totale Triumph der Gerechtigkeit, der Sieg des Guten über das Böse: Ist denn das Leben so? Und funktionieren Kriminalgeschichten grundsätzlich auf diese Weise, ja müssen sie überhaupt „funktionieren“, um gut zu sein?

In seinem Roman Das Versprechen erzählt Dürrenmatt die Geschichte noch einmal, aber mit anderem Ausgang. Interessant sind die Bezüge und Verschiebungen zum Film. Im Roman wird gleich zu Beginn der Erzähler, ein Schriftsteller, nach einem Vortrag über die Theorie des Kriminalromans in Chur von einem unbekannten Mann angesprochen. Er stellt sich als pensonierter Kommandant der Zürcher Kantonspolizei vor und ist, wie man bald erfährt, der ehemalige Vorgesetzte von Kommissar Matthäi. In seinem Wagen nimmt er den Erzähler mit zurück nach Zürich. Während der Fahrt mokiert sich der Kommandant über die üblichen Kriminalgeschichten und ihre Konventionen, denn damit würde ein völlig falsches Bild von der Wirklichkeit der Verbrechensbekämpfung gegeben:

„Ihr baut eure Handlungen logisch auf; wie bei einem Schachspiel geht es zu, hier der Verbrecher, hier das Opfer, hier der Mitwisser, hier der Nutznießer; es genügt, daß der Detektiv die Regeln kennt und die Partie wiederholt, und schon hat er den Verbrecher gestellt, der Gerechtigkeit zum Siege verholfen. Diese Fiktion macht mich wütend. Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen.“

Besessenheit, die alle zerstört

Der Erzähler erfährt nun die Geschichte von Matthäis Fall, die der Filmhandlung nur bis zu einem bestimmten Punkt folgt: Als der Kommissar erkannt hat, dass der Mörder mit Annemarie Kontakt aufgenommen hat, stellt er ihm seine Falle. Anders als im Film aber erscheint der Mann einfach nicht. Matthäi und die von ihm alarmierten ehemaligen Kollegen warten und warten – doch nichts geschieht.

Unverrichteter Dinge ziehen die Ermittler wieder ab, während der Kommissar sich immer tiefer in seiner Obsession verliert. Er ist so weit gekommen, er hat den Schuldigen um ein Haar gefasst, nun muss er doch auch erscheinen und sich festnehmen lassen! Die Jahre vergehen, Matthäi bleibt mit Annemarie und ihrer Mutter in der Tankstelle und wartet weiter. Neue Kindermorde geschehen nicht mehr. Am Ende ist er ein alter, verwirrter und nach Schnaps riechender Mann, Annemarie eine „schlampige Kellnerin“, die mit sechzehn Jahren aussieht wie eine Dreißigjährige. Matthäis Besessenheit hat alle zerstört.

Ganz am Ende verrät der Kommandant dem Erzähler, der sich inzwischen von Matthäis und Annemaries gescheiterter Existenz in der Tankstelle selbst ein Bild machen konnte, dass die Identität des Mörders nach Jahren doch noch enthüllt worden ist – durch einen puren Zufall. Auf dem Weg zu Annemarie, die sein nächstes Opfer werden sollte, ist der Mörder mit seinem Auto tödlich verunglückt. So einfach ist das.

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Unerbittliche Realität

Gegen die Konventionen des traditionellen Krimiplots plädiert Dürrenmatt im Roman für den Zweifel, das Offene, für das Ausbleiben einer erfahrbaren Gerechtigkeit. Matthäi scheitert gerade deshalb, weil er das Scheitern nicht zulassen kann. Sein Versprechen, leichtsinnig gegeben, lässt sich nicht halten.

Mit dieser Wendung vermittelt der Roman – viel stärker als der Film – das Weltbild seines Autors: Die Welt ist ein labyrinthisches Chaos, gegen das der Einzelne wenig auszurichten vermag. Wer diese Einsicht verweigert, dem ist nicht mehr zu helfen, der wird an der Unerbittlichkeit der Realität letztlich zugrunde gehen. Damit vollzieht Dürrenmatt auch eine gewisse Selbstkorrektur. Seine früheren Kriminalromane um den knorrigen Kommissar Bärlach, Der Richter und sein Henker (1952) und Der Verdacht (1953), zeugen noch nicht von einem derartigen Pessimismus. Auch hier ist die Welt ein erratischer Saustall, doch gelingt es dem Ermittler noch, mit zynischem Scharfsinn die Verbrecher zur Strecke zu bringen. Wenn auch ein bitterer Geschmack bleibt, so wird doch Gerechtigkeit vollzogen.

Im Fall von Das Versprechen verrät schon der Untertitel Requiem auf den Kriminalroman, dass dieser Text ein Abgesang auf das Genre sein will. Und mehr noch, man kann ihn auch als philosophischen Traktat lesen, als erzählte Vernunft- und Religionskritik. Die Ratio versagt an der wirren Wirklichkeit ebenso, wie jede theologisch motivierte Hoffnung auf Erlösung in die Irre geht. Denn das Leben wird vom Zufall regiert, und der denkende und glaubende Mensch erscheint letztlich als bloßer Spielball des Irrationalen.

Friedrich Dürrenmatt: „Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1996. Taschenbuch, 160 Seiten. ISBN 978-3-257-22812-0.

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