Ein unbegreiflicher Tod

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An einem kalten Februarmorgen des Jahres 1912 springt ein Mann in einem seltsamen Fallschirmanzug vom Eiffelturm in den Tod. Aus einer kuriosen Randnotiz der Geschichte des 20. Jahrhunderts macht Étienne Kern einen wunderbaren Roman: Die Entflogenen erzählt die Lebensgeschichte des böhmischen Schneiders Franz Reichelt, der mit seiner Erfindung Leben retten will und dabei selbst umkommt.

Um 1900 ist die Welt in Unruhe. Das Jahrhundert beginnt mit Aufregung, Aufbruchstimmung und berauschendem Optimismus. Wie kaum ein anderes Phänomen zeugt die neuentdeckte Flugkunst vom sich überschlagenden technischen Fortschrittsglauben. Im Jahr 1903 hatten zwei US-Amerikaner, die Brüder Wright, den ersten Motorflug der Geschichte absolviert und damit einen Boom der Begeisterung für die Entwicklung von Flugmaschinen ausgelöst.

Herausforderung einer neuen Wahrnehmung

Im Herbst 1909 findet in Brescia die erste große internationale Flugschau Italiens statt. Wer Rang und Namen hat, ist dabei, etwa der Komponist Giacomo Puccini und der avantgardistische Dichter Gabriele d’Annunzio. Fasziniert und verzaubert betrachtet das illustre Publikum die Vorführungen der neuesten Flugapparate und staunt über den Mut der Starpiloten, die sich mit ihren fragilen Maschinen in den Himmel schrauben.

Unter den Zuschauern sind auch zwei befreundete Prager Schriftsteller, Max Brod und Franz Kafka. Letzterer verfasst kurz darauf für die Prager Zeitung Bohemia einen ausführlichen Artikel über das Spektakel. Die Aeroplane in Brescia beschreibt, wie allein das Betrachten der neuartigen Flugkünste die Wahrnehmung auf ganz ungeahnte, überraschende Weise herausfordert, ja ihr gleichsam den Boden unter den Füßen entzieht.

Flug der Brüder Wilbur und Orville Wright, Dezember 1903. Foto: Gemeinfrei.
Kurioser Sonderling

Zur gleichen Zeit wie Kafka begeistert sich noch ein anderer Böhme namens Franz für die neue Technik – der aus einem kleinen Städtchen unweit von Prag stammende und nach Paris ausgewanderte Damenschneider Franz Reichelt, ein kurioser Sonderling unter den vielen Abenteurern seiner Zeit. Über diese Randfigur in der Geschichte der Flugkunst, die auf tragische Weise zu fragwürdiger Berühmtheit gelangte, hat der französische Schriftsteller Étienne Kern mit Die Entflogenen sein bemerkenswertes Romandebüt geschrieben.

Über Wien, wo er sein Handwerk erlernt, kommt Reichelt im Jahr 1900 in die französische Hauptstadt. Aller Anfang ist schwer, das Erlernen der Sprache ist mühsam, die fremde Großstadt abweisend. Für die Pariser ist der Böhme schlicht ein Deutscher, man sieht in ihm den Feind von 1871. Doch Franz geht seinen Weg, bald schon eröffnet er ein eigenes kleines Geschäft und findet zwei Angestellte. Vor allem die alleinerziehende Schneiderin Louise, die einer gewaltvollen Beziehung entkommen konnte, ist glücklich, bei Franz untergekommen zu sein. Um sie und ihre kleine Tochter Alice kümmert sich der Schneider bald mit fast väterlicher Güte und Zuwendung.

Ein einziges Ziel

Franz‘ einziger wirklicher Freund in Paris wird der Spanier Antonio, auch er ist Damenschneider. Antonio begeistert sich schon früh fürs Fliegen, bald bestimmt seine Leidenschaft alles: Seinen Laden führen Angestellte, während Antonio eigenhändig Flugmaschinen bastelt. Doch es kommt, wie es kommen muss: Wie so viele andere Hobbypiloten verunglückt auch Antonio tödlich. Sein Tod trifft Franz schwer, der nun seinerseits alles einem einzigen Ziel unterordnet: Er will einen Fallschirmanzug schneidern, der Piloten bei einem Absturz retten soll.

Die Aufgabe nimmt ihn vollständig ein, immer neue Materialien und Entwurfsskizzen stapeln sich in seiner Wohnung. Der Laden läuft schon lange schlecht. Wie ein Besessener arbeitet Franz, unternimmt Experimente mit Puppen, die er von Dächern wirft. Immer mit dem gleichen Ergebnis: Der Schirm trägt das Gewicht nicht, die Puppe zerschellt.

Schließlich setzt er alles auf eine Karte: Seinen neuesten Entwurf, für den er bereits das Patent angemeldet hat, will er am eigenen Leib testen. Er beschließt, in seinem Anzug vom Eiffelturm zu springen und das Funktionieren seiner Erfindung unter Beweis zu stellen. An einem kalten Februarmorgen im Jahr 1912 nehmen zwei Kameras der Nachrichten von Pathé-Cinéma die letzten Momente seines Lebens auf. Die bewegten Bilder seines Sprungs in den Tod gehen um die Welt.

Franz Reichelt in seinem Fallschirmanzug, Februar 1912. Foto: Gemeinfrei.
Inbegriff sinnlosen Sterbens

Posthum wird Franz Reichelt zum Inbegriff sinnlosen Sterbens, einer von Hybris und kurioser Selbstüberschätzung getriebenen Witzfigur, über deren Ende man sich zugleich lächerlich macht und gruselt. Der auf Film gebannten Szene seines Todes hat das digitale Zeitalter zu neuer Berühmtheit verholfen, als Clip kann man Reichelt auf TikTok und Instagram wieder und wieder springen sehen: Seht her, was für ein dummer Tod!

Kerns Roman versucht, das Bild Franz Reichelts, das sich bis heute hält, zu korrigieren: Der Schneider erscheint hier durchaus als Sonderling, als einsamer und verschrobener Kauz, zugleich aber auch als Idealist, der von edlen Motiven angetrieben wird – Reichelt will eine nutzbringende, Leben rettende Erfindung machen –, bevor sein Esprit in selbstzerstörerische Besessenheit kippt. Kern erzählt schlank und schlicht, sein ebenso knapper wie elegant-poetischer Stil erinnert an das große Vorbild Patrick Modiano, was die gelungene Übersetzung von Elmar Tannert noch unterstreicht.

Zwischen die kurzen Kapitel, die Reichelts Geschichte erzählen, sind immer wieder autofiktionale Abschnitte geschaltet. Hier wird die Annäherung des Erzählers an seine historische Figur beschrieben, die sich über das wiederholte Betrachten der wenigen Photographien und des kurzen Filmes vollzieht. Gleichzeitig werden Bezüge zu den „Weggegangenen“ seines eigenen Lebens hergestellt. Da ist die Freundin, die aufgrund einer unerträglich gewordenen neurologischen Erkrankung den Fenstersturz als Freitod wählt. Dann der nicht gekannte Großvater, der vor der Geburt des Erzählers auf unerklärliche Weise vom Balkon in den Tod stürzt.

Franz Reichelt stürzt vom Eiffelturm in den Tod, 4. Februar 1912. Foto: Gemeinfrei.
Unerklärlichkeit des Todes

So wird Franz Reichelts Geschichte ins Hier und Jetzt gezogen, der historische Abstand verkürzt, und mit einem Mal erscheint dieser Pariser Schneider aus Böhmen als unferner Zeitgenosse, als schillernder Künstler und tragisch Scheiternder, dessen Sterben für die Nachwelt rätselhaft bleibt: War es doch ein Suizid, ein Selbstopfer als Eingeständnis des Versagens? In Kerns Roman wird Franz Reichelts Schicksal zum Beispiel für die Unerklärlichkeit des Todes schlechthin. Durch die Beschäftigung mit seinem Sterben kann man lernen, als Zurückgelassener, als Überlebender und Nachgeborener mit dem Verschwinden der „Entflogenen“ umzugehen. Neben Trauer und Verständnislosigkeit steht dann am Ende ein tröstender Blick auf das, was bleibt, wenn sich die Erinnerung an die Spur der Bilder heftet:

„Du bist all diejenigen, die gefallen sind. Du bist all diejenigen, die verloren gingen. Du bist das Offenbare, das allein mir den Tag ein wenig schöner und den Abend ein wenig trister macht, das Offenbare, von dem jedes der Bilder spricht, in denen etwas von ihrer aller Anwesenheit bleibt und wo man ihren vertrauten, geliebten, entflogenen Gesichtern begegnet: Sie sind gewesen.“

Étienne Kern: „Die Entflogenen“. Roman. Aus dem Französischen von Elmar Tannert. ars vivendi Verlag, Cadolzburg 2023. Hardcover, 176 Seiten. ISBN 978-3-7472-0516-7.

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