Keiner der berühmtesten Romane von Patricia Highsmith, aber einer ihrer besten: In Der Schrei der Eule sieht die junge Jenny in ihrem Voyeur Robert den ersehnten Retter in der Not. Doch die Hoffnungen und Wünsche aller Figuren werden jäh zunichte gemacht. Was als Kammerspiel um einen verschämten Spanner beginnt, endet im blutigen Gewaltexzess.
Es ist merkwürdig mit diesem Roman. Gleich zu Beginn glaubt man zu wissen, wie die Geschichte funktioniert: Da steht immer wieder abends im Dunkeln ein Mann am Waldesrand und beobachtet heimlich das einsame Haus einer jungen Frau. Die Fenster sind erleuchtet, die Frau kocht, deckt den Tisch. Sie wartet auf ihren Freund, mit dem sie glücklich zu sein scheint. Der Beobachter tut nichts, außer zuzuschauen. Magisch zieht ihn das Leben der unbekannten Frau an. Der Leser versteht natürlich sofort: So etwas kann nicht gut ausgehen. Und das tut es auch nicht. Aber weil es sich hier um einen Roman von Patricia Highsmith handelt, kommt alles anders, als man zunächst denkt.
Sehnsucht nach Harmonie
Robert Forester, ein Mann in den Dreißigern, ist vom Leben enttäuscht. Gerade hat er eine schmerzhafte Scheidung von seiner untreuen Frau Nickie durchlebt und mit dem alten Leben auch den Wohnort New York hinter sich gelassen. Er ist aufs Land gezogen, ins beschauliche Langley, Pennsylvania. Durch Zufall ist er beim ziellosen Herumfahren nach der Arbeit am Haus der 23jährigen Jenny vorbeigekommen. Ihr erleuchtetes, so friedlich erscheinendes Heim hat ihn gleich fasziniert. Er sehnt sich nach Harmonie, Ruhe und gelassener Alltäglichkeit – all das glaubt er hinter den Fensterscheiben zu sehen. Immer wieder kommt er nun vorbei, parkt sein Auto am Waldrand und schleicht sich auf Jennys Grundstück. Seine Besuche werden regelmäßiger, die Neugier rasch zu einer Art fixen Idee.
Dann geschieht, was irgendwann geschehen muss: Jenny entdeckt Robert. Doch weder sie noch er reagiert, wie man erwarten würde. Jenny freut sich nach anfänglicher Irritation über Roberts Erscheinen, sie nimmt es als einen Wink des Schicksals. Denn ihr Verlobter Greg ist aufbrausend, jähzornig und neigt zur Gewalt. Der kluge, höfliche, etwas schüchterne Robert erscheint ihr wie ein Gegenbild. Plötzlich eröffnet sich Jenny eine Perspektive, aus ihrer toxischen Beziehung zu entkommen. Robert aber bleibt trotz aller Zuneigung distanziert. Er schämt sich für seinen heimlichen Voyeurismus; Jennys Freundlichkeit und Zugewandtheit irritieren ihn eher.
Spirale der Gewalt
Rasch kehrt sich das Verhältnis um: Robert ist derjenige, der sich um Distanz bemüht, während Jenny immer mehr in sein Leben eindringt, ihn am Arbeitsplatz und seiner Wohnung aufsucht und sich in einer Obsession zu verlieren droht. Alles verkompliziert sich weiter, als Greg vom Treiben seiner Verlobten erfährt und wiederum Robert nachzuspionieren beginnt. Als Greg schließlich sogar Roberts Exfrau Nickie kontaktiert, die nur darauf wartet, ihrem geschiedenen Mann noch einmal so richtig eins auszuwischen, eskaliert die Situation rasch in einer fatalen Spirale der Gewalt.
Patricia Highsmiths Thriller Der Schrei der Eule aus dem Jahr 1962 zählt nicht zu ihren bekanntesten Romanen. Die Autorin selbst hielt nicht allzu große Stücke auf diesen Text – zu Unrecht. Highsmith erzählt meisterlich und sprengt einmal mehr die Konventionen des Genres. Trotz aller Unvorhersehbarkeit entwickelt sich die Geschichte logisch und konsequent, man ist beim Lesen zugleich überrascht und doch sofort überzeugt, dass alles genau so und nicht anders seinen Gang nehmen kann. Nirgends arbeitet der Text mit billigen Tricks oder Klischees, nie erscheinen die zahlreichen Wendungen der Erzählung unglaubwürdig oder um des bloßen Effekts Willen kalkuliert.
Keine Schwarz-Weiß-Kontraste
Beeindruckend ist auch die Charakterzeichnung: Highsmith arbeitet nicht mit Schwarz-Weiß-Kontrasten, beinah alle Figuren entziehen sich einer klaren moralischen Bewertung. Hält man Robert zu Beginn des Romans rasch für einen bedrohlichen Spanner, so entpuppt er sich schon bald als vom Leben Gezeichneter, der ganz und gar nichts Böses will. Dann muss er selbst (und der Leser) erkennen, dass es so einfach auch wieder nicht ist: Unweigerlich wird Robert in Jennys Leben hineingezogen, sein Handeln löst etwas aus, dessen er nicht mehr Herr zu werden vermag.
Die Kontrolle entgleitet ihm letztlich auch, weil er in entscheidenden Momenten passiv bleibt und die Katastrophe sehenden Auges auf sich zukommen lässt. Auch Jenny ist keineswegs ein bloß unschuldiges Opfer unglücklicher Umstände. Sie nimmt Roberts Auftauchen als Wink des Schicksals, als den „Schrei der Eule“, der ihr Leben plötzlich und grundlegend verändern soll. Ihre naiven und irrealen Wünsche und Projektionen, die sie entwickelt, setzen dann eine gefährlich (selbst-)zerstörerische Dynamik in Gang.
Kampf gegen das Schicksal und die eigene Unfähigkeit
Neben der präzisen und schmucklos-eleganten Sprache ist es dieses moralische Schillern der Erzählung, das Fehlen von klarer Sym- wie Antipathie für die Figuren, was den Text auch nach über sechzig Jahren so spannend und zeitgemäß erscheinen lässt. In Zeiten, in denen wieder laut nach glasklarer Unterscheidung von Gut und Böse, nach eindeutigen und unmissverständlichen Bekenntnissen gerufen wird – auch und gerade in der Gegenwartsliteratur –, funktionieren Highsmiths Texte als wohltuend nüchterne und differenzierende Korrektur.
Es braucht eben nicht viel, um aus der Spur zu geraten, und letztlich ist es weder böse Absicht noch bewusstes Agieren, was den Menschen in den Abgrund stößt. Highsmiths Figuren geraten unversehens ins Taumeln und können nur hilflos zuschauen, wie sie unaufhaltsam fortgerissen werden. Vergeblich kämpfen sie sowohl gegen das Schicksal als auch gegen die eigene Unfähigkeit, mit dem Leben fertigzuwerden. Ihnen dabei zuzuschauen, ist ein ebenso erschreckendes wie faszinierendes Vergnügen.
Patricia Highsmith: „Der Schrei der Eule“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler. Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Diogenes Verlag, Zürich 2020. Taschenbuch, 432 Seiten. ISBN 978-3-257-24573-8.