Ein Mann beschließt zu sterben und lebt nach seinem vermeintlichen Selbstmord doch weiter. Geisterhaft und aus der Distanz beobachtet der Erzähler in Nabokovs frühem Meisterwerk Der Späher eine bunte Gesellschaft russischer Emigranten im Berlin der Zwischenkriegszeit. Doch rasch erweisen sich alle scheinbaren Gewissenheiten dieses Romans beim Lesen als falsch.
Die Kunst, die Leser zunächst in scheinbarer Sicherheit zu wiegen und ihnen dann den Boden unter den Füßen wegzuziehen, beherrschen manche Autorinnen und Autoren. Doch wohl niemand in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts stellt so sorgsam gearbeitete, herrlich verlockende Literaturfallen auf wie Vladimir Nabokov. Seine Prosa arbeitet nicht mit dem Knalleffekt, sondern mit langsamer, stetiger Verunsicherung. Die Geschichten geraten zunächst kaum merkbar ins Kippen, selbst bei genauem Lesen spürt man erst ab einem gewissen Punkt, dass etwas nicht stimmt, ohne sofort benennen zu können, was hier geschieht und auf welche Weise.
Weiterleben nach dem Tod
So geht es einem auch mit dem kleinen Roman Der Späher, den Nabokov während seiner Berliner Exilzeit verfasst und der erstmals 1930 in einer russischen Emigrantenzeitschrift erscheint. Zunächst ist hier nichts außergewöhnlich, die Geschichte beginnt recht konventionell: Der Erzähler, ein junger Mann, Russe und wie der Autor vor den Bolschewiki nach Berlin geflohen, schlägt sich als Hauslehrer bei einer wohlhabenderen Familie durch. Er beginnt, eher aus Langeweile und Einsamkeit denn aus Leidenschaft, eine Affäre mit einer verheirateten Frau. Der Ehemann erfährt davon, sucht seinen Widersacher auf und schlägt ihn brutal zusammen. Gedemütigt und verzweifelt beschließt der Erzähler, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er setzt sich eine Pistole auf die Brust und drückt ab.
Dann wird es merkwürdig: Das Bewusstsein des Erzählers existiert weiter. Er sieht sich verwundet in einem Krankenhaus, erlebt seine Genesung, bleibt aber davon überzeugt, körperlich tot zu sein:
„Ich vermutete, daß der posthume Schwung meines Geistes bald nachlassen würde, doch war, als ich noch am Leben war, meine Vorstellungskraft offenbar so fruchtbar gewesen, daß mir jetzt genug verblieb, um noch eine ganze Weile vorzuhalten.“
Bunte Schar geflüchteter Russen
Fortan erfährt sich der Erzähler als Beobachter, als mehr oder minder unbeteiligter „Späher“ seines und des Lebens anderer. Er findet eine neue Arbeit und eine neue Wohnung – doch alles, was er fortan erlebt, empfindet er als Illusion, als Täuschung und seltsames Fortleben seines Bewusstseins nach dem für ihn unbezweifelbaren Tod.
Im Mietshaus, in das er nun zieht, lebt auch eine recht wohlhabende Familie russischer Exilanten, in deren Mittelpunkt zwei Schwestern stehen, Wanja und Jewgenija. An ihren Gesellschaften, bei denen sich eine bunte Schar nach Berlin geflüchteter Russen versammelt, nimmt der Erzähler fortan häufiger teil. Doch wie es scheint, bleibt er dabei eine Randfigur, ein distanzierter Beobachter und Protokollant. Schließlich verliebt er sich in die jüngere Schwester Wanja, weiß jedoch nicht, wie er ihr seine Liebe gestehen oder auch nur zeigen soll.
Beobachten ohne Begreifen
Immer stärker in seinen Fokus rückt dann Smurow, ein ebenso eleganter wie einsamer, etwas melancholischer junger Mann, der ebenfalls leidenschaftliche Gefühle für Wanja hegt und verzweifelt, als er erfährt, dass sie längst mit einem anderen verlobt ist. Der Erzähler beobachtet Smurow genau, ohne ihn jedoch wirklich begreifen zu können.
Smurow scheint alles und nichts zu sein: Er ist ein brutaler antibolschewistischer Weißer oder aber ein sowjetischer Spion, vielleicht ein Dieb, vielleicht ein Prahler, der eine aufregende, aber offensichtlich lügenhafte Geschichte seiner Flucht aus den Revolutionswirren zu erzählen weiß. Neben seiner Schwärmerei für Wanja hat er wohl eine Affäre mit dem jungen Dienstmädchen des Hauses, vielleicht ist er aber auch homosexuell.
Mehr als ein literarischer Trick
Wie ein Detektiv versucht der Erzähler, Smurow auf die Schliche zu kommen, doch dieser entzieht sich permanent, spiegelt sich immer nur im Bewusstsein der anderen. So viele Figuren in diesem Text auftreten, so viele Versionen von Smurow gibt es, und keine scheint ihn ganz zu fassen.
Irgendwann wird klar, was hier geschieht und was man als Leser bis dato höchstens ahnt: Der Erzähler und Smurow sind identisch, die Beobachtungen nichts als Selbstbetrachtungen. Doch dahinter steckt mehr als nur die Demonstration eines literarischen Tricks, bei dem sich die Oberfläche als trügerisch und die Erzählinstanz als unzuverlässig erweist. Smurow ist eine zutiefst gequälte, verlorene Kreatur. Nach seinem verunglückten Selbstmord hat er sich gleichsam von sich selbst getrennt, jedes Vertrauen in die eigene Existenz, jede Achtung vor sich selbst ist dahin. Wo Halt finden?
Wendepunkt in Nabokovs Werk
Smurow versucht Anschluss an seinesgleichen zu finden, sucht die Nähe der anderen Emigranten, die wie er entwurzelt und heimatlos sind. Doch sein Experiment, sich ganz aus der Distanz von außen zu bespitzeln, will nicht glücken. Man kann eben nicht zugleich Subjekt und Objekt einer Beobachtung sein. Der Späher (in der englischen Übersetzung The Eye spielt der Titel mit dem Gleichklang von eye, Auge, und I, Ich) kommt sich selbst nicht auf die Schliche. Sein Bild zerbirst in der disparaten Wahrnehmung der anderen, nach deren Anerkennung und Bestätigung er letztlich vergeblich heischt.
So lässt sich dieser kleine, von Dieter E. Zimmer wunderbar übersetzte Text auf vielerlei Weise lesen: als Studie über Selbst- und Fremdwahrnehmung, als Erzählung über das zerrissene Leben in der Emigration, als literarische Darstellung einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. In Nabakovos Werk stellt Der Späher einen Wendepunkt dar. Immer häufiger bevölkern seinen literarischen Kosmos fortan wahnhafte, unzuverlässige Erzähler und trügerische Doppelwelten. Smurow weist voraus auf den Mörder Hermann in Verzweiflung, auf Humbert Humbert, Charles Kinbote in Fahles Feuer und die merkwürdige Spiegelwelt in Ada. Das macht den Reiz und auch die Modernität dieses Erzählers aus, in dessen Universum dieses Frühwerk so gut hineinführt wie kaum ein anderer Text.
Vladimir Nabokov: „Der Späher“. Roman. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. Taschenbuch, 144 Seiten. ISBN 978-3-499-13568-2.