Vier Maximalist Novels über den Zweiten Weltkrieg

Das zerstörte Rotterdam 1945. (Foto: Public Domain)

Wie schreibt man über den größten und grausamsten Krieg der Moderne, wie über die Shoa? Seit Jahrzehnten versuchen sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller an Antworten auf diese Frage. Für die hier vorgestellten Autoren gibt es dabei nur einen Weg: den enzyklopädischen Riesenroman, der eine Totalität der Darstellung anstrebt. Vier Bücher, die im doppelten Sinn Geschichte geschrieben haben.

Über den Zweiten Weltkrieg sind in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Romane verfasst worden, erzählt aus unterschiedlichsten Perspektiven mit den verschiedensten stilistischen Mitteln. Eine ganz eigene Gruppe bilden dabei jene gigantischen Wälzer von tausend und mehr Seiten, die den Anspruch erheben, das monströse Geschehen in seiner Totalität zu erfassen. Ob sie dabei nur eine Episode des Krieges wie eine einzelne Schlacht, einen gewissen zeitlichen Abschnitt oder bestimmten Raum herausgreifen – immer geht es darum, ein möglichst vollständiges Bild jenes Krieges zu geben, der sich von allen vorigen durch seine Ausmaße, seine Brutalität und die technischen Mittel, mit denen er geführt wurde, unterscheidet.

Der italienische Literaturwissenschaftler Stefano Ercolino hat für derart exuberante, inhaltlich, stilistisch und morphologisch hybride Romane den Begriff der Maximalist Novel geprägt. Deren beste Zeit ist inzwischen wohl wieder vorüber (wenn auch die Mode der dicken Bücher erstaunlicherweise noch immer andauert), aber gerade mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg sind in den letzten siebzig Jahren doch einige bemerkenswerte Texte entstanden, die nicht nur lesenswert bleiben, sondern auch neue Sichtweisen auf das historische Geschehen ermöglicht haben.

Vier Romane dieses Typus stelle ich hier vor. Es sind Werke, die nach wie vor gelesen und (oftmals kontrovers) diskutiert werden. Sie spiegeln die jeweiligen geschichtswissenschaftlichen und erinnerungspolitischen Diskurse ihrer Entstehungszeit und haben umgekehrt auf diese zurückgewirkt. Vor allem aber haben sie die Art und Weise, wie heute über den Zweiten Weltkrieg und die Shoa literarisch geschrieben wird, maßgeblich beeinflusst und verändert.

Wassili Grossman: Stalingrad
© Claassen Verlag

Wassili Grossmans (1905-1964) Stalingrad, erstmals 1952 in der Sowjetunion erschienen und erst spät im Westen wahrgenommen, kreist um jene unfassbar verlustreiche Schlacht an der Wolga in den Jahren 1942 und `43, die den Anfang vom Ende des Erfolges der deutschen Wehrmacht einläutete. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Familie Schaposchnikow, die in Stalingrad lebt und zunächst ungläubig, dann immer nervöser und schließlich fatalistisch das Näherrücken der Kampfhandlungen verfolgt. Anhand eines enormen Personaltableaus, das Charaktere aus allen Gesellschaftsschichten versammelt – Zivilisten und Soldaten der Roten Armee, Kolchosarbeiter und Politkommissare, sowjetische und deutsche Generäle -, zeichnet Grossmans Roman ein überaus detailliertes Bild vom Alltag des Krieges in der Sowjetunion.

Formal wird hier nicht so kühn und innovativ erzählt wie in den besten sowjetischen Texten der 1930er Jahre. Die gleißende Expressivität eines Andrej Platonow etwa oder Michail Bulgakows phantastische Imaginationen sind nicht Grossmans Sache. Sein Vorbild ist der Autor von Krieg und Frieden, und wenn je ein realistischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts Tolstoi wirklich nahegekommen ist, dann Grossman.

Der Schriftsteller Wassili Grossman als Kriegsreporter für die Zeitung der Roten Armee „Krasnaja Swesda“ (Roter Stern). (Foto: Public Domain)

Nahezu ungebrochen bleibt in diesem Werk das Pathos des Siegers. Die moralische Überlegenheit des Stalinismus gegenüber Nazi-Deutschland wird hier noch nicht grundsätzlich hinterfragt (anders als wenige Jahre später in Leben und Schicksal, der gleichfalls monumentalen Fortsetzung von Stalingrad, deren Veröffentlichung dann auch prompt unterdrückt wurde, was die Karriere des Schriftstellers Grossman praktisch beendete). Dass man Grossmans wichtige, zweifellos kanonische Texte erst seit wenigen Jahren in unzensierten Übersetzungen lesen kann, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man sich in Westdeutschland lange Zeit für die Geschichten der deutschen Kriegsheimkehrer und ihre romantisierenden „Erzählungen aus Russland“ stärker interessierte als für die Perspektive der damaligen Gegner.

Thomas Pynchon: Die Enden der Parabel
© Rowohlt Verlag

Vollkommen anders erzählt gut zwanzig Jahre später Thomas Pynchon (*1937) vom Krieg. Im Unterschied zu Grossman, der als Kriegsberichterstatter an nahezu allen wichtigen Ereignissen von der deutschen Invasion bis zur Schlacht um Berlin teilnahm, ist Pynchon schon ein Nachgeborener. Auch will der US-Amerikaner nichts mehr wissen von jenem am bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts orientierten Erzählen. Die Enden der Parabel (im Original Gravity’s Rainbow) aus dem Jahr 1973 (dt. 1981) ist ein Höhepunkt der postmodernen Literatur. Mit überbordender Lust am Sprachspiel wird hier die Grenze zwischen Hochliteratur und Pop krachend eingerissen. Passagen wild assoziativen Erzählens stehen neben unzähligen Referenzen an Trivialliteratur und comichaften Slapstick-Szenen.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Aggregat-4-Rakete, genannt „Vergeltungswaffe 2“ (V2), die letzte große Waffe der Wehrmacht, entwickelt kurz vor Kriegsende. Mit dieser Rakete, „die man erst kommen hört, nachdem sie explodiert ist“, terrorisiert Nazi-Deutschland im Herbst 1944 noch einmal London. Und die Technik dieser Waffe wird in der Zeit des Kalten Krieges (dank der in die USA verbrachten Nazi-Ingenieure wie Wernher von Braun) Grundlage sowohl der militärischen wie zivilen Raketentechnologie.

Start einer Aggregat-4-Rakete, genannt V2 („Vergeltungswaffe 2“). (Foto: Public Domain)

Aus der kaum zu überblickenden Fülle der Handlungsstränge sticht derjenige um den in London stationierten GI Tyrone Slothrop heraus (der Name ist ein Anagramm zu „Sloth [Faultier] or Entropy“). Dieser Slothrop gerät in den Fokus obskurer Geheimorganisationen, die entdecken, dass die Raketen der Deutschen immer genau an jenen Orten einschlagen, an denen Slothrop zuvor mit einer seiner zahlreichen Geliebten Sex hatte.

Um herauszufinden, ob es sich dabei um simple Koinzidenz oder doch um rätselhafte Kausalität handelt, wird Slothrop nach dem Ende des Krieges in das verwüstete Nachkriegseuropa entsandt. Er irrt durch die im Roman „Zone“ genannte postapokalyptische Landschaft auf einer seltsamen Quest, um Licht ins Dunkel seiner Identität und Biographie zu bringen. Das alles klingt so grotesk, wie es auch wirklich ist. Pynchons berühmt-berüchtigter, enorm einflussreicher Roman ist ein gigantisches Feuerwerk an Albernheit und Irrwitz. Doch darunter verbirgt sich, gleichsam als Tiefenschicht, eine immer noch faszinierende Kultur- und Technikkritik von erstaunlicher Komplexität. Dies und die oftmals albtraumhaft-halluzinatorische Schönheit des Textes sichern den Enden der Parabel nach wie vor ihren literarischen Rang.

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
© Berlin Verlag

Über die Shoa aus der Tätersicht erzählen – darf man das? Nun, der französisch schreibende US-Amerikaner Jonathan Littell (*1967) hat es mit Die Wohlgesinnten 2006 (dt. 2008) getan und mit seinem Roman eine intensive, kontrovers geführte Debatte ausgelöst. Erzählt wird hier in aller drastischen Ausführlichkeit vom Genozid am europäischen Judentum aus der Perspektive des – fiktiven – SS-Offiziers Dr. Maximilian Aue.

Aue ist Jurist, hochintelligent und klassisch gebildet, Sohn einer Französin und eines Deutschen. Er ist homosexuell, begehrt in Wahrheit aber ausschließlich seine Schwester Una („die Eine“), doch die Mutter hat das inzestuöse Verhältnis der Geschwister frühzeitig erkannt und beendet. Ein offenbar bleibendes Trauma für den Erzähler.

An allen wichtigen Kriegsschauplätzen im Osten taucht Aue auf: Er nimmt am Massaker von Babyn Jar teil, mordet mit den Einsatzgruppen hinter der Frontlinie, übersteht die Schlacht von Stalingrad und wird Zeuge der industriellen Menschenvernichtung in Auschwitz-Birkenau. Schließlich erlebt er den Zusammenbruch des Reiches und die finale Schlacht um Berlin, aus der er knapp entkommen kann. Aue taucht unter, löst seine Familienprobleme auf ziemlich abstoßende Art und Weise, und beginnt ein neues Leben.

Die Schlucht Babyn Jar bei Kyiv, wo deutsche Einsatzgruppen am 29. und 30. September 1941 etwa 33.000 jüdischen Männer, Frauen und Kinder ermordeten. (Foto: Public Domain)

Das Problem dieses unbedingt lesenswerten Romans ist dabei weniger die exzessive Darstellung der historischen Brutalität oder der Blinkwinkel des moralisch völlig indifferenten und eiskalten Protagonisten (Littell ist nicht der Erste und Einzige, der sich eine literarische Täterperspektive zu eigen gemacht hat), sondern der überfrachtete intertextuelle Überbau des Romans: Schon der Titel verweist auf die griechische Mythologie – die „Wohlgesinnten“ sind die Erynnien, antike Rachegöttinen, die den reuigen Muttermörder Orest jagen und in den Wahnsinn treiben.

Auch andere Referenzen springen einem permanent entgegen: Natürlich Ernst Jünger und Klaus Theweleits Männerphantasien, die Werke des Marquis de Sade und französische Poststrukturalisten wie Blanchot und Bataille. Aber lässt sich mit der Folie der Orestie, dem Ödipuskomplex oder gar anhand von Batailles Überlegungen zum Inzest die Psyche der SS-Elite angemessen deuten? Vielleicht, aber dann hätte es eben doch einen besseren Schriftsteller als Littell gebraucht, dessen Roman aller historischen Genauigkeit und Anschauungskraft zum Trotz etwas zu rasch, oft auch ungelenk geschrieben wirkt und passagenweise einem seimigen Kitsch verfällt, der seinem Thema eher schadet.

William T. Vollmann: Europe Central
© Suhrkamp Verlag

Auch William T. Vollmanns (*1959) Europe Central (2005, dt. 2013) arbeitet überwiegend mit realen historischen Charakteren und mischt Fakten und Fiktion. Der Roman nimmt den Krieg im Osten in den Blick und zeigt dabei sowohl die deutsche wie die sowjetische Perspektive: Der Krieg wird zum dualen Kampf zweier Länder, Ideologien und Systeme. Eine eindeutige Parteinahme wird dabei vermieden. Vollmanns Text arbeitet zwar sowohl Gemeinsamkeiten wie Unterschiede der Systeme heraus, keinesfalls aber schlägt er sich moralisch etwa auf die Seite der zwar antifaschistischen, aber dennoch totalitären Sowjetunion.

Zeitlich greift der Text weiter aus als alle anderen hier vorgestellten Romane, seine Spanne reicht von 1906 bis 1975. Das sind die Lebensdaten des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch, der heimlichen Hauptfigur von Europe Central. Ein Großteil des Textes erzählt von Schostakowitschs Durchleben der Kriegsjahre, seinen Kompositionen und vor allem der langen Affäre mit der mysteriösen Elena Konstantinowskaja.

Daneben treten viele weitere Künstlerfiguren auf, die alle mit dem Krieg und ihrem jeweiligen System ringen: Käthe Kollwitz und Anna Achmatowa, der Filmemacher Roman Karmen (Ehemann der Konstantinowskaja), außerdem zahlreiche Politiker, Militärs etc. In achtzehn Doppelkapiteln widmet sich Vollmann jeweils zwei Figuren, woraus sich interessante kontrastive Paarungen ergeben: So werden etwa die beiden Generäle Friedrich Paulus und Andrej Wlassow zusammen in den Blick genommen. Paulus, der Befehlshaber von Stalingrad, gerät nach der Niederlage in sowjetische Gefangenschaft und hilft später in der DDR beim Aufbau der Nationalen Volksarmee. Wlassow läuft noch während des Krieges zu den Deutschen über und kämpft mit seiner „Russischen Befreiungsarmee“ gegen Stalins Rote Armee.

Der Komponist Dmitri Schostakowitsch im Jahr 1942. (Foto: Public Domain)

Ähnlich wie bei Pynchon steht auch in Europe Central eine technische Metapher im Mittelpunkt. Was für die Enden der Parabel die Raketentechnologie, ist hier das Telefon: Verschlungene Drähte verbinden die weit auseinanderliegenden Territorien; körperlose, geisterhafte Stimmen kommandieren gigantische Armeen und schicken sie in beispiellose Materialschlachten. Leider jedoch verfügt Vollmann weder über Pynchons Originalität und Witz noch über Grossmans wirklichkeitsgesättigte Unmittelbarkeit. Europe Central beeindruckt durch enormen Materialaufwand und kompositorischen Einfallsreichtum, am Ende aber bleibt dies ein etwas papierner Roman.


Wassili Grossman: „Stalingrad“. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Marija Rajer und Andreas Weihe. Claassen Verlag, Berlin 2022. Hardcover, 1280 Seiten. ISBN 978-3-546-10013-7.

Thomas Pynchon: „Die Enden der Parabel“. Roman. Deutsch von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Hamburg 1994. Taschenbuch, 1200 Seiten. ISBN 978-3-499-13514-9.

Jonathan Littell: „Die Wohlgesinnten“. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin Verlag, Berlin 2009. Taschenbuch, 1392 Seiten. ISBN 978-3-833-30628-0.

William T.  Vollmann: „Europe Central“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2014. Taschenbuch, 1026 Seiten. ISBN 978-3-518-46516-5.

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