Gianfranco Calligarichs fast fünfzig Jahre alter Roman Der letzte Sommer in der Stadt ist plötzlich ein weltweiter Bestseller geworden. Erzählt wird aus dem Leben des jungen Leo Garazza, der von Mailand nach Rom zieht und dort auf der Suche nach Glück und Liebe durchs Leben taumelt. Warum fasziniert der Roman heute so viele Lesende?
Das gibt es selten: Ein Buch, bei seinem Erscheinen allenfalls mäßig erfolgreich, wird ein halbes Jahrhundert später zu einem Weltbestseller. Doch genau dies ist jüngst mit Gianfranco Calligarichs Roman Der letzte Sommer in der Stadt geschehen. 1973 erschien der Text in einem nicht sehr großen Verlag, erhielt – trotz der vehementen Fürsprache Natalia Ginzburgs – nicht sehr spektakuläre Rezensionen und verschwand nach kurzer Zeit in der Versenkung.
Von Mailand nach Rom
In den folgenden Jahrzehnten tauchte das Buch da und dort wieder auf und wurde neu verlegt, meist mit ebenso wenig Erfolg wie beim Ersterscheinen. Doch allmählich begann man, in der italienischen Literaturszene von einem Geheimtipp zu raunen. Es erschienen ein paar wissenschaftliche Arbeiten, irgendwo verwies immer mal irgendjemand auf diesen Text. Und wie das so ist, was schwer erreichbar ist, wird umso heißer begehrt. Eine Legende strickte sich um Calligarichs Roman, stark genug, um fast fünfzig Jahre später die erneute, jetzt von reichlich medialem Tamtam begleitete Publikation des Buches in Italien zu einer Sensation zu machen. Bald rissen sich internationale Agenturen und Verlage in aller Welt um die Übersetzungsrechte, sowohl die englische als auch die deutsche Übertragung (souverän gearbeitet von Karin Krieger) landeten auf Bestenlisten.
Man meint nun, das Porträt einer Generation in diesem älteren Roman zu erkennen und, sicherlich noch entscheidender für den Erfolg, ein Porträt der Stadt Rom in den frühen siebziger Jahren. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Mann namens Leo Garazza geht vom kalten, abweisenden, Erfolg gebietenden Mailand nach Rom. Er hat die dreißig vor kurzem überschritten und befindet sich naturgemäß – man denke an Ingeborg Bachmanns berühmte Erzählung – in einer Lebenskrise. Was er mit seinem Leben anfangen will, weiß er noch immer nicht recht. Und so taumelt er ziellos durch die glückverheißende Stadt, erhascht hier einen Gelegenheitsjob, träumt dort von einer Karriere als Drehbuchautor, lernt allerlei freundliche und weniger freundliche Menschen kennen.
Lakonisch erzähltes Scheitern
Vor allem begegnet Leo Arianna, einer bildschönen, wortgewandten, aber ziemlich fragilen jungen Frau, die ebensowenig wie Leo weiß, wohin mit sich (sie ist Langzeitstudentin der Architektur, kommt aber immerhin aus wohlhabender Familie). Die beiden verbringen Zeit miteinander, verlieben sich – meint man -, aber so recht will nichts aus ihnen werden. Vor allem Arianna scheut die Verbindlichkeit und zieht am Ende einen sehr viel älteren, aber reichen Mann Leo vor, nicht jedoch ohne zumindest zu ahnen, eine Chance vergeben zu haben.
Nachdem auch Leos Versuche, beruflich irgendwie Fuß in der Stadt zu fassen trotz Hilfe von Bekannten und eigentlich guter Chancen gescheitert sind, trifft ihn die endgültige Trennung hart. Er fährt ans Meer, „das alles aufnimmt, all die Dinge, die nie geboren werden konnten, und die für immer gestorbenen“. Hier endet seine Erzählung.
Im Grunde präsentiert Calligarich in diesem Roman keine originelle Geschichte. Es ist das alte Lied zweier Liebender, die nicht zusammenkommen. Arianna und Leo sind Haltlose, die sich für kurze Zeit an den anderen zu klammern versuchen, dann aber wieder voneinander wegtreiben. Das alles liest man nicht zum ersten Mal; Der letzte Sommer in der Stadt schildert in lakonischer Sprache das Scheitern des jungen (weißen) Mannes in der ebenso schönen wie abweisenden Metropole – ein offenbar noch nicht auserzählter Topos.
Sehnsucht nach freiem Leben und Lieben
Woher aber rührt die besondere Faszination, die gerade jetzt Calligarichs Roman zu einem derartigen Erfolg macht? Es liegt nahe, den Text als Zeitkapsel zu begreifen, der noch einmal Nostalgie und die Sehnsucht nach den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts heraufbeschwört, jener kurzen, aber inspirierenden Epoche gesellschaftlicher Um- und Aufbrüche. Doch davon ist in diesem Roman bei genauerem Hinsehen gar nicht viel zu spüren. Die Figuren sind allesamt Unfreie, Getriebene, die sich der Zwänge nicht entledigen können, sondern ihnen ausgeliefert bleiben. Arianna etwa findet keineswegs zur weiblichen Selbstermächtigung. Sie entscheidet sich gegen Leo und ein freieres, aber wohl weniger privilegiertes Leben und stattdessen für die Ehe mit einem ungeliebten, aber reichen Mann.
Die Kritik hat den Roman bei seiner jetzigen Wiederentdeckung häufig mit Federico Fellinis La dolce vita (1960) verglichen. Das ist sicher nicht die beste Referenz für diesen Text, dazu wird bei Calligarich viel zu brav und geradlinig erzählt. Und doch ist dieser Verweis aufschlussreich, denn im Grunde erscheint Calligarichs Roman aus der Zeit seiner Entstehung gefallen. Alles kommt einem bei genauerem Hinsehen seltsam gestrig vor, eher die späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre abbildend denn die Post-’68-Ära. Die Sehnsucht nach einem freieren Leben und Lieben ist da, aber sie wird nicht wirkmächtig.
Sicher hat das zeitgenössische Publikum das leicht Anachronistische dieses Romans stärker wahrgenommen als Lesende heute, und darin mag die anfänglich eher bescheidene Rezeption begründet liegen. Man hatte das Gefühl, was hier geschildert wird, beschreibt nicht mehr ganz die Gegenwart. Das hat sich nun geändert und damit auch der Erfolg dieses Textes. Vielleicht ist es am Ende so, dass man sich heute wieder eher mit Calligarichs lapidarem und melancholischem Pessimismus identifizieren mag, in einer Zeit, in der die Aufstiegs- und Autonomieversprechen des späten 20. Jahrhunderts nicht mehr ganz so hell leuchten.
Gianfranco Calligarich: “Der letzte Sommer in der Stadt”. Roman. Aus dem Französischen von Karin Krieger. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022. Hardcover, 208 Seiten. ISBN 978-3-552-07275-6.