Nach seinem Buch über Henry James hat der Ire Colm Tóibín erneut einen biographischen Roman über einen Großschriftsteller der Moderne vorgelegt. Routiniert werden entscheidende Episoden aus dem Leben Thomas Manns erzählt, doch als literarisches Kunstwerk überzeugt Der Zauberer nicht.
Man muss den Iren Colm Tóibín schon mutig nennen, ausgerechnet über Thomas Mann einen Roman vorzulegen. Denn über kaum einen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts weiß man derart viel wie über den Verfasser von Buddenbrooks und Der Zauberberg. Es gibt Biographien über ihn selbst und seine Familie in Hülle und Fülle, auch schon ein paar Romane, nicht zuletzt das nach zwanzig Jahren noch sehenswerte Dokudrama Die Manns – ein Jahrhundertroman von Heinrich Breloer, dessen x-te Wiederholung stets irgendwo im Nachtprogramm der Dritten läuft.
Schullektüre und Reizfigur
Mann ist zudem nach wie vor Schullektüre und, auch das gehört zur Wahrheit, eine Reizfigur. Den einen gilt der Schriftsteller als spießiger Closet Homosexual, als bourgeoiser Patriarch und Langweiler, der „die Bügelfalte zum Kunstprinzip“ erhoben habe, wie schon Alfred Döblin giftete. Für die anderen ist Mann einer der großen Autoren des 20. Jahrhunderts, der nach der Machtübernahme der Nazis gezeigt habe, dass sich dezidierte Bürgerlichkeit und antifaschistische Gesinnung keineswegs ausschließen müssen.
Doch derart ausgeleuchtet und kanonisiert ist Der Zauberer – diesen Spitznamen verdankt der Schriftsteller seinen Kindern – vorwiegend im deutschen Sprachraum. Gewiss, auch auf der anderen Seite des Atlantiks kennt und liest man hier und da den Autor des Magic Mountain und zeitweiligen Bewohner schöner Villen in Princeton und Pacific Palisades, doch für einen Schriftsteller vom Rang etwa eines Franz Kafka hält ihn dort kaum jemand. Selbst nebenan in Frankreich bekommt man auf die Frage, welchen deutschsprachigen Schriftsteller der Moderne die Lesenden besonders schätzen, eher die Namen Stefan Zweig oder Joseph Roth zu hören.
Das muss nicht viel heißen, fristen doch umgekehrt bei uns William Faulkner, John Dos Passos oder André Gide ein ebenso unverdientes Schattendasein. Wenn Tóibíns Anliegen also darin bestünde, die englischsprachige Leser:innenschaft mit den Details der Biographie des Lübecker Kaufmannssohnes vertraut zu machen, gäbe es dagegen erst einmal wenig einzuwenden. Aber was leistet dieser Roman darüber hinaus, das eine Lektüre lohnenswert machen könnte?
Vom Nationalisten zum bürgerlichen Antifaschisten
Tóibín arbeitet sich brav chronologisch durch das Leben seines Protagonisten, der sich nach dem frühen Tod des Vaters und der Abwicklung der Familienfirma erst einmal in der Münchener Bohème umsieht, um dann mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren jenen monumentalen Roman Buddenbrooks zu veröffentlichen, der ihm nicht nur Anerkennung einbringt, sondern auch die Salontür der unermesslich reichen und gebildeten jüdischen Familie Pringsheim öffnet. Deren Tochter Katia wird er bald darauf heiraten und mit ihr sechs Kinder in die Welt setzen.
Im Ersten Weltkrieg noch Nationalist (bei Tóibín wird hierfür vor allem der Einfluss seines Freundes Ernst Bertram verantwortlich gemacht), wandelt sich Mann nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten allmählich zum überzeugten Demokraten. Bald flieht die Familie vor dem Terror der Nazis ins Ausland, zunächst in die Schweiz, dann über Frankreich in die USA. Anders als viele andere Exilanten, wie etwa der Bruder Heinrich, wird Mann auch im Ausland erfolgreich und lebt im relativen Luxus. Er findet wohlhabende Gönner, die ihn nach Kräften unterstützen, verkehrt in höchsten künstlerischen und politischen Kreisen und nimmt schließlich ganz die Rolle des Stellvertreters jenes humanistischen „anderen Deutschlands“ an, das sich den Nationalsozialisten in Wort und Haltung entgegenstellt.
Manns unterdrückte Homosexualität
Sein zentrales Augenmerk legt Tóibín in Der Zauberer – wie schon im früheren Roman über Henry James Porträt des Meisters in mittleren Jahren (2005) – auf die komplexe, verkrampfte Sexualität des Schriftstellers, seine meist unterdrückten homosexuellen Neigungen. Vor allem jene Episoden, die Mann selbst literarisch verarbeitet hat, werden breit nacherzählt, wie die den Novellen Tonio Kröger und Tod in Venedig zugrundeliegenden Erlebnisse. Doch hier zeigen sich schon die Probleme des Buches, das ja nicht bloß Biographie, sondern Roman, also literarisches Kunstwerk sein will.
Tóibín muss nämlich, seinem Konzept folgend, diese Begebenheiten biographisch korrekt und zugleich doch literarisch erzählen, womit er unweigerlich in Konkurrenz zur Literatur Manns selbst tritt. Und um wie viel überzeugender zeigt dieser die harmlose und doch nicht harmlose Verliebtheit des jugendlichen Tonio Krögers (Thomas Mann) in seinen Schulfreund Hans Hansen (Armin Mertens). Ein ähnliches Problem ergibt sich bei der Darstellung jenes Ferienerlebnisses, das Mann zum Tod in Venedig anregt. Die tatsächliche Begebenheit ist ziemlich banal: Der Schriftsteller macht Urlaub mit Frau und Kindern in Italien, ein polnischer Junge namens Tadzio erregt seine Aufmerksamkeit und wird von ihm aus der Ferne angeschwärmt. Es kommt zu keinem Gespräch, geschweige denn einem Übergriff.
In Manns Novelle gerät der Protagonist, der Schriftsteller Gustav von Aschenbach, völlig aus dem Häuschen, verliert sich in seiner plötzlichen Liebe zu dem Heranwachsenden und stirbt schließlich an der in Venedig grassierenden Cholera. Tóibín liest diese von Schwulst nicht freie Erzählung als ein Hauptwerk Manns (wogegen sich einiges einwenden ließe), und tatsächlich gibt der Abgleich der erlebten Wirklichkeit mit ihrer literarischen Verwandlung einiges her. Doch der Versuch, über das bloß Biographische hinauszukommen und diese Transformation selbst zu literarisieren, vermag nicht recht zu überzeugen.
Ungelenke Übersetzung
Anderes dagegen gelingt Tóibín durchaus: Sehr schön sind die in den USA spielenden Emigrationskapitel, in denen sich Mann in Künstler-, Mäzenaten- und höchsten Regierungskreisen bewegt und zeitgleich seinen komplexen Deutschlandroman Doktor Faustus konzipiert. Doch alles in allem schleppt sich Der Zauberer recht schwerfällig dahin, trotz der reichen Fülle des Materials, das hier durchaus gedrängt auf über 500 Seiten präsentiert wird. Zum Teil mag man dafür die gelegentlich holprige und ungelenke Übersetzung verantwortlich machen – hier wurde offenbar wieder einmal mit sehr heißer Nadel gestrickt, um die deutsche Ausgabe zeitgleich mit dem Original auf den Markt werfen zu können.
In der Hauptsache sind die Probleme jedoch der narrativen Konventionalität geschuldet, der Einfallslosigkeit, mit der hier erzählt wird. Tóibín nähert sich seiner Figur vorwiegend als Chronist, vermeidet es aber, Thomas Mann als Schriftsteller auf gemeinsamem Terrain zu begegnen. Von postmodernen Spielerein etwa mit der Faktizität der Biographie will der Autor nichts wissen, und nur selten gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass sich Tóibín nicht nur mit der Lebens- und Gedankenwelt seines Protagonisten auseinandergesetzt hat, sondern auch mit dessen Sprache und Stil. Damit aber bleibt dieses Buch nicht viel mehr als eine gründlich recherchierte und routiniert geschriebene Biographie im Romankostüm. Man mag sich davon mehr oder weniger gut unterhalten lassen, erzählerische Magie jedoch will Tóibíns Zauberer nicht versprühen.
Colm Tóibín: „Der Zauberer“. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini. Hanser Verlag, München 2021. Hardcover, 560 Seiten. ISBN 978-3-446-27162-3.
Nach einer Rezension im DLF nun diese hier. Aufschlussreich und schlüssig. Eine gute Orientierungshilfe – danke. 👍📚