Marie NDiaye zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Ihre Romane, Erzählungen und Theaterstücke erscheinen oft rätselhaft und surreal, geprägt von einem strengen Formwillen. In der Novelle Ein Tag zu lang verschwinden am Ende eines Sommerurlaubs auf dem Land Frau und Kind des Pariser Lehrers Herman. Der Verzweifelte begibt sich auf die Suche nach seiner Familie, doch bald wird er immer mehr von einer seltsamen Dorfgemeinschaft absorbiert.
Wenn es mit rechten Dingen zugehen würde, dann wäre Marie NDiaye (*1967) hierzulande so berühmt wie Zadie Smith, Chimamanda Ngozi Adichie oder (seit kurzem) Bernardine Evaristo. Es geht aber nicht mit rechten Dingen zu. Denn erstens kommt nach wie vor die übergroße Mehrheit aller übersetzten Romane aus dem englischsprachigen Raum, vor allem aus den USA, woran auch die zunehmende Diversifizierung der Literatur bislang wenig geändert hat. Zweitens verweigert sich die französische Autorin konsequent jenem ubiquitären, etwas ausgelatschten, aber nicht totzukriegenden Realismus, der sich seit dem 19. Jahrhundert so wunderbar vermarkten lässt.
Ein ganz eigener Stil
Und drittens, das vielleicht das größte Hindernis, unterläuft NDiaye weitgehend die Erwartung des – überwiegend weißen – Literaturbetriebs, wonach Schwarze Schriftsteller*innen in ihren Texten bitteschön ihre eigene, nicht-weiße Identität in den Mittelpunkt zu stellen haben. Die Autorin jedoch, die ihren Debütroman bereits mit siebzehn Jahren im renommierten Verlag Édition de Minuit veröffentlichen konnte, versteht sich selbst ganz und gar als Französin und weder als „multiracial“ noch als „mixed race“. Der Senegal, das Herkunftsland ihres Vaters, sei ihr fremd, wie sie in Interviews betont.
2009 schrieb NDiaye mit ihrem Roman Drei starke Frauen dann aber doch ein Stück weit an der eigenen Biographie entlang und widmete sich den Themen Flucht, Migration und Feminismus. Für dieses Buch, einen der besten französischen Romane der letzten Jahrzehnte, wurde sie mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Doch NDiaye ist, anders als Adichie oder Evaristo, keine dezidiert politische Autorin. Das heißt aber gerade nicht, dass sie sich dem Politischen verweigert. Als öffentliche Intellektuelle bezieht sie häufig Position, aus Protest gegen die Migrationspolitik des Präsidenten Nicolas Sarkozy etwa kehrte sie Frankreich zwischenzeitlich den Rücken und zog nach Berlin. Doch mit den Strömungen und Trends des Zeitgeists mag sie sich nicht so recht abgeben, auch sind ihre Bücher keine als erzählende Literatur maskierten Essays oder Reportagen. Ihre Gesellschaftskritik ist subtil und untrennbar mit dem sehr speziellen Stil ihrer Prosa verwoben.
Eine Familie verschwindet
Der deutsche Verlag NDiayes, Suhrkamp, hat nach dem Erfolg von Drei starke Frauen rasch auch frühere Texte der Autorin veröffentlicht. Die als Roman vermarktete Erzählung Ein Tag zu lang – im Original 1994, in deutscher Übersetzung von Claudia Kalscheuer 2010 erschienen – beginnt zunächst als mysteriöse Geschichte vom Verschwinden einer Familie. Herman, ein Lehrer aus Paris, hat mit seiner Frau Rose und dem gemeinsamen Sohn wie jedes Jahr die langen Sommerferien fernab der Hauptstadt auf dem Land verbracht. Am 31. August, dem geplanten Abreisetag, beschließt die Familie, dieses Jahr ausnahmsweise noch einen Urlaubstag anzuhängen und erst später zurückzufahren. Doch mit dem Ende der Saison ist alles anders: Schlagartig wechselt das Wetter, auf Sonnenschein und Sommerwärme folgen Kälte, Nebel und unendlicher Dauerregen. Rose und der Sohn sind plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.
Herman macht sich auf die Suche im nahegelegenen Dorf. Doch die Bewohner erscheinen eigenartig verstockt, oberflächlich freundlich zwar, aber merkwürdig undurchsichtig. Konkrete Hilfe kann oder mag man ihm nicht leisten, stattdessen wird Herman geraten, vorerst im Ort zu bleiben und sich den Dorfbewohnern anzupassen. Dann würde er seine Familie, vielleicht, eines Tages wiedersehen. Das Geschehen kippt endgültig ins Albtraumhafte, als Individuum sieht sich Herman einer zunehmend erscheinenden Umgebung ausgesetzt, auf die er sich keinen Reim zu machen weiß.
Anleihen bei Kafka
Wie der Landvermesser K. in Franz Kafkas Das Schloss verliert er das eigentliche Ziel immer mehr aus den Augen, während er die Einheimischen des Dorfes beobachtet und sich ihren seltsamen Sitten und Gebräuchen anzunähern versucht. Ein Tag zu lang ist in der Tat eine kafkaeske Erzählung, ohne aber dass der Text dadurch epigonal, also fad und vorhersehbar, würde. NDiaye lässt sich von Motiven und Stimmungen, von der Atmosphäre Kafkas inspirieren, die das Entsetzen, das Abwegige und Absonderliche, mit sehr subtiler, manchmal schlagartig hervorblitzender Komik unterlegt. Klugerweise aber verzichtet die Autorin darauf, den Stil imitieren zu wollen. So schimmern hinter ihrer hypotaktischen, doch glasklaren und nie sterilen Prosa eher französische Vorbilder durch, allen voran Flaubert. Dabei gelingt NDiaye etwas Seltenes: Trotz aller Bezüge auf klassische Texte ist sie – auch schon in dieser vergleichsweise frühen Erzählung – als Stilistin höchst originell und verblüffend souverän.
Nach und nach bringt Herman es fertig, im Dorf engere Kontakte zu knüpfen. Er trifft auf Alfred, den Vorsteher des Fremdenverkehrsamtes, der gleichfalls aus Paris stammt. Auch dessen Frau ist auf rätselhafte Weise verschwunden, nachdem das Paar nach dem Ende der Ferien noch einen weiteren Tag im Ort geblieben ist. Herman zieht ins dörfliche Relais und wird Alfreds Zimmernachbar, der dort zusammen mit der jungen Hotelierstochter Charlotte wohnt. Diese weckt bald auch Hermans Begehren.
Das Dorf als patriarchalisches Paradies
Dann ergibt sich eine neue Wendung: Herman erfährt, dass Alfreds Frau eine geisterhafte Existenz im Dorf weiterführt und von einem verwaisten Zimmer aus durchs Fenster ihren Mannes im Hotel beobachtet. So trifft Herman dann auch eines Tages, als er die beiden schon fast vergessen hat, auf Rose und sein Kind. Auch sie sind zu „unerlösten Seelen“ geworden, die in den leerstehenden Zimmern der Bürgerhäuser wohnen und ab und zu auf der Straße herumstreichen, zum Kontakt mit anderen aber nicht mehr fähig oder willens sind.
Es sind also die Frauen der Großstadtfamilien, die hier in der Provinz zunächst verschwinden, dann als geisterhafte Existenzen wieder auftauchen. Für die zurückbleibenden Männer jedoch, die immer mehr in der dörflichen Gemeinschaft aufgehen und alsbald neue sexuelle Beziehungen knüpfen (oder im Falle Hermans erhoffen), erweist sich das Landleben als patriarchalisch-traditionalistisches Paradies. Die Geschlechterordnung ist klar geregelt, verheiratete Frauen sind in eine seltsame Tracht gezwängt:
„Eine mit Apfelblüten bedruckte Bluse, wie sie in der Gegend, das wusste er [Herman] beiläufig, die verheirateten Frauen trugen, war über der Brust gekreuzt, wobei sie diese etwas einzwängte, und seitlich mit zwei verschiedenfarbigen Bändern zusammengebunden, an denen man, wenn man dieser Bräuche kundig war, ablesen konnte, in welchem Jahr die Frau geheiratet hatte. Das Scharlachrot ihrer Wangen fand sich genau im Herzen jeder kleinen Blüte wieder.“
Die unverheirateten Frauen und Mädchen wie Charlotte dagegen fungieren als sexuell verfügbar, willenlose oder willfährige Objekte, derer man sich, wie Alfred, einfach bedienen kann, während die stumm gewordenen Ehefrauen dem Treiben ihrer Männer zuschauen.
Weit mehr als eine „Fingerübung“
NDiayes Ein Tag zu lang ist – gerade was seinen gesellschaftskritischen Gehalt angeht – ernster und vielschichtiger, als man zunächst meint und als es die Erzählweise des Textes, der als Geistergeschichte oder auch Gothic Horror gelesen werden kann, zunächst suggerieren mag. Es ist eben, anders als die deutsche Kritik bei Erscheinen befand, doch nicht bloß die „Fingerübung“ einer begabten Autorin, die ihren Stoff noch nicht endgültig gefunden hat. Nein, NDiaye beherrscht auch hier schon ihre literarischen Mittel viel zu gut, als dass es ihr nur um den Effekt, um Budenzauber oder ein intertextuelles Verweisspiel ginge.
Eine Parabel also über die französische Polarität von Stadt- und Landleben, über den alles überspannenden Zentralismus, der nur die Metropole Paris und die Provinz kennt? Ja, und zugleich eben mehr, ein Text, der aus diesem scheinbar banalen Gegensatz ein tiefes und beklemmendes Unbehagen in seinen Leserinnen zu erzeugen weiß. Große Literatur eben.
Marie NDiaye: „Ein Tag zu lang“. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. Taschenbuch, 158 Seiten. ISBN: 978-3-518-46493-9.