Patricia Highsmith ist eine der großen US-amerikanischen Autorinnen des letzten Jahrhunderts. Oft etwas degradierend als „Queen of Crime“ etikettiert, hat sie in ihren meisterhaft konstruierten Thrillern die Abgründe der Psyche ausgeleuchtet. Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin erscheint mit Ladies eine schöne Auswahl früher Stories, die allesamt vor Highsmiths großem Durchbruch entstanden sind.
Die strikte Trennung zwischen E und U, zwischen ernster Literatur und solcher, die vorwiegend der Unterhaltung dient, ist eine ziemlich blöde und angeblich ziemlich europäische Angelegenheit. In den USA, so wird von manchen mit sehnsuchtsvollem Blick über den Atlantik behauptet, kenne man diese elitäre Kategorisierung gar nicht. „You call them art, I call them entertainment, we both turn the pages“, erklärte einmal der Schriftsteller Jonathan Franzen, der aber doch mit dieser Dichotomie nicht gerade wenig gerungen hat.
Europa bewunderte ihre literarischen Qualitäten
Das Klischee von den bildungsbürgerlich beflissenen Europäern und den lockeren, unterhaltungsaffinen Amerikanern ist eben genau das: ein Klischee. Kaum irgendwo wird das deutlicher als in der Rezeptionsgeschichte der US-Schriftstellerin Patricia Highsmith, die in ihrem Geburtsland zu Lebzeiten als „Queen of Crime“ und damit als nicht so richtig ernstzunehmende Genre-Autorin galt, während man sie in Europa spätestens seit den 1970er Jahren als große, außergewöhnliche Literatin feierte. Wohl auch deshalb kehrte Highsmith ihrem Heimatland schon 1963 den Rücken und zog zunächst nach Paris, später dann in die Schweiz, wo sie sehr einsam, sehr reich und sehr maliziös ihren letzten Lebensabschnitt verbrachte. Privat war sie wohl eine recht unausstehliche Person, die sich selbst und ihr immer kleiner werdendes soziales Umfeld peinigte. Isolation, Verbitterung und Depressionen verdunkelten Highsmiths letzte Jahre; ihr politisches Engagement für die Sache der Palästinenser desavouierte sie selbst durch eine bizarre und abscheuliche antisemitische Einstellung.
Doch hier in Europa fand sie früh ein Publikum, das in ihren Werken nicht nur handwerklich hervorragend gemachte Thriller sah, sondern auch künstlerische Qualitäten entdeckte, die sie aus der Masse der Krimiautoren deutlich heraushob. Hier sah man sie in den Spuren Dostojewskijs und Joseph Conrads wandeln und verglich ihre Texte mit denen Kafkas, Camus‘ oder André Gides. Das mag ein wenig hochgegriffen sein und wiederum auch zu einseitig. Der besondere Reiz der Prosa Highsmiths liegt nämlich gerade darin, dass sie die scheinbar unvereinbaren Pole der Literatur auf kongeniale Weise verbindet. Highsmiths Texte sind immer unterhaltsam und zugänglich, der Stil ist schmucklos und schlicht. Wortgirlanden, exquisite Bilder oder ein Aufbrechen der alltagssprachlichen Syntax sucht man vergeblich. Doch hinter den scheinbar schwerelosen, unprätentiösen Sätzen verbirgt sich immer mehr: Urplötzlich tun sich bodenlose Abgründe auf, die einen beim Lesen jäh in die Tiefe reißen.
Faszination für das Anomale
Seit frühester Kindheit, so kolportierte Highsmith selbst in einem ihrer raren Interviews, entwickelte sie eine Faszination für das Abweichende und Anomale, für die dunkle Seite des Menschen, seine Obsessionen und Verbrechen. Ihre Antihelden sind Mörder eher aus Zufall denn aus Überzeugung, raffinierte Betrüger und antisoziale Eigenbrötler. Highsmiths Aufmerksamkeit gilt nie den Ermittlern – für die Form des sogenannten Whodunit hat sie ebenso wenig übrig wie für den kaputten Hardboiled Detective. Das Interessante am Verbrechen ist für Highsmith der Verbrecher selbst, dessen Innenleben sie erkundet, ohne allerdings einem allzu billigen und oberflächlichen Psychologisieren zu verfallen. So richtig verstanden hat man auch nach fünf Romanen nicht, wie Tom Ripley, ihre wohl berühmteste Figur, eigentlich tickt. Seinem Weg voller Leichen, Lügen und hedonistischer Genusssucht folgt man aber bis zum letzten, freilich nicht mehr ganz so grandiosen Teil der Reihe mit atemloser Spannung. Und nie kann man die Frage abschütteln: Könnte ich solche Untaten nicht auch begehen?
Doch es gibt auch noch eine Highsmith jenseits des Thrillers, etwa die Autorin von Salz und sein Preis, jenes 1952 zwischen Zwei Fremde im Zug (1950) und Der talentierte Mr. Ripley (1955) unter dem Pseudonym Claire Morgan veröffentlichten Romans, der eine lesbische Amour fou erzählt und als einziges Werk der Schriftstellerin ihre eigene Homosexualität offen thematisiert. Und es gibt die Meisterin der kleinen Form, denn Highsmith hat, wie so viele US-amerikanische Schriftsteller:innen des letzten Jahrhunderts, ihre Laufbahn nicht mit Romanen, sondern mit Short Stories begonnen.
Außenseiter im Mittelpunkt
Der deutschsprachige Hausverlag von Patricia Highsmith, Diogenes, hat nun zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin einen Band mit frühen Erzählungen herausgebracht. Sämtliche Texte sind zwischen 1936 und 1949 entstanden, also bevor mit dem Debütroman Zwei Fremde im Zug der ganz große Durchbruch kam (der durch Alfred Hitchcocks Verfilmung noch zusätzlich verstärkt wurde). Die allermeisten der hier abgedruckten Stories sind aus der von Paul Ingendaay und Anna von Planta verantworteten Werkausgabe übernommen und wurden von Melanie Walz und Dirk van Gunsteren übersetzt, einige Erzählungen allerdings werden an dieser Stelle weltweit zum ersten Mal veröffentlicht (hier besorgte pociao die Übertragung).
In nahezu allen in Ladies versammelten Stories stehen Außenseiter im Mittelpunkt, einsame, kauzige, haltlose, oft auch rätselhafte Figuren, die auf das Leben und die Welt von einer Randposition blicken. Anders als der Titel des Bandes Glauben machen will, drehen sich keineswegs alle Geschichten um Frauen. In Der Schneckenforscher etwa, einer der berühmtesten Short Stories der Autorin, entwickelt ein beruflich erfolgreicher und glücklich verheirateter Broker plötzlich ein enormes Interesse an Schnecken und deren Paarungsverhalten und beginnt, die Tiere in seinem Arbeitszimmer zu züchten. Sein Hobby wird zur Leidenschaft und dann zur Obsession, die ihn am Ende buchstäblich verschlingt.
Wie ist das eigentlich gemacht?
Patricia Highsmiths Erzählungen beginnen fast immer harmlos, ja unscheinbar. Sie zeigt zunächst eindeutig scheinende Situationen, die dann unversehens kippen, ohne dass man als Leser:in so recht versteht, wie einem selbst und auch den Figuren geschieht. Man blättert zurück und fragt sich: Wie ist das eigentlich gemacht?, aber es will oft genug nicht gelingen, die narrativen Winkelzüge und geschickten Manipulationen zu durchschauen. So etwa in der Der Morgen des ewigen Nichts: Ein New Yorker Taxifahrer namens Aaron Bentley beschließt, von der hektischen Großstadt ins ländliche Idyll Vermonts zu ziehen und dort ein neues Leben zu beginnen. Die scheinbare dörfliche Harmonie nimmt ihn gefangen, sein angespartes Geld entbindet ihn vom Druck, sich sofort eine neue Arbeit suchen zu müssen, und so vertändelt Aaron die warmen Sommertage. Eines Tages lernt er die etwa zehnjährige Freya kennen. Das Mädchen und Aaron begegnen sich von nun an bald täglich und verbringen gemeinsam die Zeit mit Tagträumereien. Bald jedoch regt sich Unmut im Dorf, das den Neuankömmling zunächst Willkommen geheißen hat. Alles verkehrt sich ins Gegenteil: Der Mann wird geschnitten, hinter seinem Rücken beginnt man zu tuscheln, bei der Arbeitssuche wird er schroff abgewiesen. Die rosige Verheißung ist Kälte und Feindseligkeit gewichen, schließlich muss Aaron Bentley das Dorf als Gescheiterter verlassen. Die Geschichte ist ein typisches Beispiel für die an der Oberfläche so harmlos anmutende, in Wahrheit aber doppelbödige Erzählkunst Highsmiths: Ist Aarons Beziehung zu Freya denn wirklich so unschuldig, wie es den Anschein hat? Kann man das Misstrauen der Dorfbewohner dem Fremden gegenüber nicht nachvollziehen? Und wenn sich Aaron nichts hat zu schulden kommen lassen, ist sein Verhalten nicht reichlich naiv?
Oder Als die Flotte im Hafen lag, eine der berühmtesten Stories von Highsmith: Eine junge Frau beschließt, ihren gewalttätigen Mann zu töten und macht sich auf in ein neues Leben. Aus der Rückschau erfahren wir ihre traurige Vergangenheit. Gegen ihren Willen landete sie durch Zufall in einem Bordell und war endlosen Missbräuchen ausgesetzt. Dann tauchte ihr zukünftiger Mann auf, ein Farmer, der sie aus der Hölle zu erlösen versprach. Doch die Ehe mit ihm auf dem Land wurde schlimmer und schlimmer, erst fehlte jede Zärtlichkeit, dann kamen die Schläge. Nun ist sie frei, wie sie glaubt, der Mord war, so erscheint ihr selbst, eine Art Notwehr. Sie imaginiert ihren Neuanfang in leuchtenden Farben, dann aber kommt die bittere Wende – die Illusion bricht (nicht nur für sie, sondern eben auch für die Lesenden) auf grausamste Weise zusammen.
Lebendige Frauenporträts
Highsmiths Texte sind, so erstaunlich es scheint, auch nach fast 80 Jahren nur wenig gealtert. Das liegt nicht nur an ihrem ganz eigenen, unkonventionellen Blickwinkel, auch nicht ausschließlich an der lakonisch-schlichten und eben deshalb den jeweiligen Moden der Auszierung weniger erliegenden Sprache. Im Gegensatz zu vielen ihrer männlichen Autorenkollegen, Raymond Chandler etwa, Ernest Hemingway oder Albert Camus gelingen ihr lebendige und glaubhafte Frauenfiguren. Wie könnte man die selbstlose deutsche Immigrantin aus Blumen für Louisa je wieder vergessen (eine der wenigen Erzählungen, die glücklich enden)?
Oder Mrs. Robertson in Die stille Mitte der Welt, die in einem kleinen New Yorker Park ein heimliches Liebespaar beobachtet und vom Neid auf das Glück der Anderen schier zerfressen wird? Diese kleinen, verdichteten Porträts sind eine notwendige und willkommene Ergänzung zu den vielen männlichen Protagonisten, um die die allermeisten Romane Highsmiths kreisen. Ohne diese nur der Form nach kleinen Texte wäre eine Würdigung ihres Werkes unvollständig. Die große Kunst dieser manchmal bescheidenen, oft unausstehlichen, als Schriftstellerin aber unumstrittenen Grande Dame der US-Literatur der Nachkriegszeit – sie verdient immer neue Aufmerksamkeit und wiederkehrende Lektüren.
Patricia Highsmith: „Ladies“. Frühe Stories. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz, Dirk van Gunsteren und pociao. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 320 Seiten, Hardcover. ISBN: 978-3-257-07152-8.