Witold Gombrowicz‘ Ferdydurke ist ein singulärer Roman der Weltliteratur. Hier wird geblödelt und infantilisiert, was das Zeug bzw. der Popo hält. Doch dieser Klassiker der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist mehr als bloß eine Abrechnung mit dem Kulturbetrieb und der Gesellschaft der Vorkriegszeit.
Was soll das Ganze eigentlich? Man stellt sich diese Frage ja doch hin und wieder beim Lesen von zeitgenössischen Romanen, aber bei einem Klassiker wie Witold Gombrowicz‘ (1904-1969) Ferdydurke wagt man kaum, sie vorzubringen. Denn wohl keinem Werk der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts kommt ein derartiger Klassiker-, ja Kultstatus zu wie diesem 1937 erstmals veröffentlichten Roman. Bis heute ist das Buch in Polen Schullektüre (zumindest auszugsweise), bis heute wird es von konservativen Sittenwächtern des Landes angefeindet, ja verdammt.
Zurück in die Kindheit
Und doch: Was soll das Ganze? Schon der Titel gibt unlösbare Rätsel auf. Das Wort „Ferdydurke“ kommt im Text sonst nirgends vor, nach dem noch verstecktesten Hinweis, was es mit diesem seltsamen Begriff auf sich hat, sucht man beim Lesen vergebens. Und die Handlung? Nun ja: Ein etwa dreißigjähriger Schriftsteller namens Jozio liegt zu Beginn im Bett und ist verzweifelt. Sein jüngstes Werk ist von der Kritik zerrissen worden, man wirft ihm Infantilität vor. Noch ganz außer sich über das Unverständnis der „Kulturtanten“, wie der Erzähler seine Rezensenten nennt, findet er sich mit einem Mal in ein Kind zurückverwandelt, genauer: in einen siebzehn-, achtzehnjährigen Oberschüler.
Prompt erscheint wie aus dem Nichts ein alter Lehrer namens Pimko und schleift den wieder zum Jungen Gewordenen zurück auf die Schulbank. Dort folgen absurde, bizarre Szenen – man denkt unweigerlich an die Feuerzangenbowle, aber hier ist alles noch viel überdrehter -, der „idealistische“ Siphon wird von seinem „modernistischen“ Mitschüler Mjentus „durch die Ohren“ vergewaltigt (indem ihm dieser Obszönitäten zuflüstert). Dann führen die beiden ein Grimassen-Duell auf Leben und Tod. Dazwischen: Ödester, spießbürgerlicher Unterricht durch den lächerlichen Pimko und seine Kollegen.
Groteske Episoden
Dann verschiebt sich die Szenerie. Jozio wird von Pimko in einer progressiv-bürgerlichen Familie untergebracht. Die Eltern sind Ingenieure, die Tochter des Hauses, vom Erzähler nur „die Moderne“ genannt, eine selbstbewusste Oberschülerin. Jozio verliebt sich sogleich in das Mädchen, wird aber völlig ignoriert. Auch hier gibt es wieder allerlei groteske Episoden, und schließlich versucht der verschmähte Liebhaber Jozio, das Mädchen auf schlimmste Weise zu kompromittieren. Im letzten Teil flieht Jozio dann mit seinem Schulkumpan Mjentus auf das mondäne Landgut seiner Familie. Hier werden die Gegensätze und das dialektische Herr-Knecht-Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem wohlhabenden, exzentrischen polnischen Adel und der bettelarmen Landbevölkerung aufgezeigt – völlig überdreht, versteht sich. Während sich Mjentus in einen jungen Bediensteten bäuerlicher Herkunft verguckt, entführt Jozio schließlich die Tochter des Hauses.
Doch all das Skurrile ist lediglich ein Aspekt. Der Roman wimmelt nur so von zeitgenössischen und autobiographischen Anspielungen. Hier wird die polnische Kulturszene aufs Korn genommen (die dem jungen Autor Gombrowicz übel mitspielte und sein literarisches Debüt als „infantil“ und „unreif“ verriss), das Bildungssystem, der Kampf zwischen Traditionalisten und Modernisten, ein eingebildetes, fortschrittliches Bürgertum, die unermesslich ungleichen ökonomischen Verhältnisse zwischen den Klassen und nicht zuletzt die eigene Homosexualität.
Die „Fresse“ der Konvention
Doch wichtiger als alle diese Bezüge ist der große Entwurf, den Gombrowicz hier wagt (die eigene Poetologie liefert der Roman ganz explizit mit): Denn die ganzen Blödeleien und Dummheiten, die Ferdydurke vorführt, das Kindische, Widersinnige, sind die eigentliche Realität, in der sich der moderne Mensch bewegt und für die es sich nicht länger zu schämen gilt. Und all das Hehre und Hohe, all die Ernsthaftigkeit und Würde von Kunst, Kultur, Gesellschaft, Politik? Alles Plunder, alles Schwindel, bloß Behauptung und Borniertheit; nichts weiter als eine schlecht sitzende, billige Maske, die es herunterzureißen gilt. Diese nach außen gerichteten, verlogenen Konventionen bezeichnet der Text „Fresse“ – einer der zentralen Begriffe, die immer wieder vorkommen. Das Infantile, was dahinter und darunter zum Vorschein kommt, ist „pupa“ (in der deutschen Übersetzung „der Popo“) – der (homo-)sexuelle Doppelsinn ist unübersehbar. Diese satirische Entlarvung des Etablierten bildet der Roman konsequent auch auf der formalen und sprachlichen Ebene ab, und das ist es, was die Lektüre – heute nicht weniger als vor bald achtzig Jahren – so schwierig macht.
Man kann sich viel Schlaues zu diesem widerständigen Text einfallen lassen (und die Kulturtanten geben sich nach wie vor Mühe dabei), kann ihm das Etikett des „Postmodernismus-avant-la-lettre“ anheften, kann ihn als Kulturkritik des Vorkriegspolens lesen, kann den intertexutellen Verweisen auf Kafkas Verwandlung, Carrolls Alice im Wunderland und so weiter nachgehen. Aber Ferdydurke ist weit mehr als nur eine unerschöpfliche Fundgrube für kluge Exegeten. Und die Ausgangsfrage – Was soll das Ganze? – führt letztlich vor die Wand. Vielmehr verlangt dieses Buch, so Gombrowicz selbst, „frivole Leser“, also solche, die sich dem grell Albernen und subversiv Absurden frei und lustvoll überlassen. Denn schließlich: Dreihundertfünfzig Seiten herrliche Blödelei, wortgewaltig, obszön und bitterböse – wo gibt es das sonst noch?
Witold Gombrowicz: „Ferdydurke“. Roman. Aus dem Polnischen von Walter Tiel. Mit einem Nachwort von Rolf Fieguth. Carl Hanser Verlag, München 1983. 378 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-446-13987-9.