Ein gelungenes Experiment, belohnt mit dem Deutschen Buchpreis 2020: Die Autorin Anne Weber hat ein buchlanges Versepos vorgelegt. Aber keine klappernden Hexameter künden hier von den blutigen Taten alter Recken. Stattdessen erzählt Annette, ein Heldinnenepos frei von Schwulst und Pathos die wahre Geschichte der Französin Anne Beaumanoir, die sich als junges Mädchen der Résistance anschließt und später für ein freies Algerien kämpft.
Mit Helden ist das so eine Sache. Es gibt sie eigentlich nicht mehr, soll sie nicht mehr geben, denn sie fügen sich nicht in den Zeitgeist. Zu männlich, zu toxisch, zu toxisch-männlich. Und sowieso: Die literarische Form, in der der Held existieren durfte, ist lange schon passé. Der Roman hat das Epos überflüssig gemacht. Als Kuriosität freilich mag es hier und da noch aus der Mottenkiste der erzählerischen Möglichkeiten hervorgekramt werden. Immer mal wieder wagt jemand das Experiment, in Versen zu erzählen. In der deutschen Literatur versuchte vor bald hundert Jahren der Schriftsteller Alfred Döblin, seine eigene und die Krise des Romans durch einen Rückgriff auf die altertümliche Erzählform zu bewältigen. Für sein Epos Manas (1926) fand er Anregungen in uralten indischen Heldengeschichten wie dem Mahābhārata-Epos, einem Text deutlich älter noch als die Werke Homers. Ein antiker Held erscheint hier im modernen psychologischen Gewand – der indische Fürstensohn weist in vielem schon auf Franz Biberkopf, den ganz und gar unheldischen Helden in Döblins Berlin Alexanderplatz, voraus. Die Leser Döblins allerdings wollten von derlei Formexperimenten nichts wissen. Schon zu Lebzeiten ein Misserfolg, ist Manas bis heute ein selten geleser Text Döblins.
Ein abenteuerliches Leben
Man kann das alles aber auch ganz anders machen. Denn stimmt es denn, dass unsere Zeit keine Heldenfiguren mehr hervorbringt? Vielleicht muss man nur die Blickrichtung ändern. Helden mögen aus der Mode gekommen sein, aber was ist mit den Heldinnen? Wer hat die je besungen? Und was zeichnet sie aus, was macht ihre Taten, auch hier und heute, heldenhaft? Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber (*1964), die seit vielen Jahren in Frankreich lebt und schreibt, hat eine solche Heroin unseres Zeitalters tatsächlich aufgetan. Eine reale, keine mythische Heldin. Eine, die noch unter den Lebenden weilt und doch schon Legende ist.
Anne Beaumanoir, Rufname ‚Annette‘, steht kurz vor ihrem 97. Geburtstag und lebt im kleinen Ort Dieulefit in Südfrankreich – und ja: diese Frau hat ein in jeder Hinsicht bewegtes Leben geführt. Als junges Mädchen schloss sie sich der Résistance an, später nahm sie am antikolonialen Befreiungskampf Algeriens teil. Ihre zweibändige Autobiographie ist vor kurzem auch auf Deutsch erschienen. Aus diesem Stoff hat Weber nun also ihre zeitgenössische Heldengeschichte gefertigt. Hexameter oder Alexandriner allerdings sind für die Autorin keine Versuchung. Annette, ein Heldinnenepos ist zwar in Versen erzählt, doch im Grunde hat man es hier mit rhythmisierter Prosa zu tun.
Bewusstsein für ungerechte Verhältnisse
Was aber macht nun Anne „Annette“ Beaumanoirs Leben so außergewöhnlich? Aus recht einfachen familiären Verhältnissen stammend erlebt das Mädchen 1940, kaum siebzehn Jahre alt, den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die deutsche Besatzung Frankreichs. Annette kommt mit dem kommunistischen Teil der Résistance in Berührung (später auch mit den Gaullisten) und übernimmt für diese vorwiegend Botendienste. Auch an der Rettung von jüdischen Kindern vor dem Zugriff der Gestapo nimmt Annette teil. Doch stärker involviert in den Untergrund-Befreiungskampf wird sie nicht, und irgendwann endet der Krieg mit dem Sieg der Alliierten. Annette geht nach Paris, um Medizin zu studieren, ihr Leben plätschert ein wenig dahin.
Doch ihr politisches Bewusstsein für ungerechte Verhältnisse, ihre linken Überzeugungen und der unbedingte Wille, an revolutionären Prozessen teilzuhaben, versanden nicht, im Gegenteil. Bald schon tut sich für Annette eine neue Möglichkeit auf, für die aus ihrer Sicht gerechte Sache aktiv zu werden, denn in der französischen Kolonie Algerien erhebt sich 1954 die unterdrückte Bevölkerung. Annette stellt sich auf der Seite der Kolonisierten und gegen die Regierung de Gaulles. Zusammen mit ihrem Mann übernimmt sie wieder Botengänge, dieses Mal für die FLN, die Nationale Befreiungsfront Algeriens, die auch in Frankreich Terroranschläge gegen die Besatzungsmacht verübt.
Flucht aus dem Gefängnis
Eines Tages wird Annette, wieder bei einem Botengang, enttarnt und verhaftet. Die Anklage lautet auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum Mord. Nur durch eine Flucht aus dem Gefängnis kurz vor der Urteilsverkündung kann sie sich retten. Annette lässt ihre Kinder und den Mann in Frankreich zurück und geht zunächst nach Tunesien; dann, nach dem Ende des französischen Kolonialregimes, nach Algerien, wo sie als Medizinerin in der neuen Regierung Ben Ballas einen Posten im Gesundheitsministerium erhält. Doch schon zwei Jahre später, 1965, endet der Versuch, aus Algerien ein freies und sozialistisches Land zu bauen. Ein Militärputsch fegt die Regierung hinweg, wieder muss Annette fliehen, diesmal zurück nach Frankreich, wo sie mittlerweile nicht mehr als Terroristin gesucht wird.
Annette Beaumanoirs Heldentum, wie es der Text versteht, besteht weniger in spektakulären Taten, als vielmehr in einer bestimmten Haltung. Es ist ein fundamentaler Widerstandsgeist, der schon in der ganz jungen Frau erwacht, erst leise und untergründig, und dann immer stärker wird, bis er ihr ganzes Leben dauerhaft bestimmt.
„Wie das meiste /
ist auch das Widerstehen anders, als man es sich /
denkt, nämlich kein einmaliger Entschluss, /
kein klarer, sondern ein unmerklich langsames /
Hineingeraten in etwas, wovon man /
keine Ahnung hat.“
Aber diese Haltung, dieser Wille, angesichts der monströsen Ungerechtigkeiten des letzten Jahrhunderts nicht bloß in Opposition zur herrschenden Ordnung zu stehen, sondern selbst tätig zu werden, hat einen Preis. Dem politischen Engagement Annettes muss alles andere kompromisslos untergeordnet werden – auch das private und familiäre Glück. Ihrem Mann entfremdet sich Beaumanoir während des algerischen Exils, die in Frankreich beim Vater verbliebenen Kinder sieht sie nicht aufwachsen.
Der „hohe Ton“ wird vermieden
Dass der Text diese Details sichtbar macht, die das traditionelle Heldenepos ja eher verschweigt (unter anderem auch deshalb, weil so etwas wie moderne Elternschaft im patriarchalischen Maskulinitätskonzept, wie es den klassischen Epopöen zugrunde liegt, nicht vorgesehen ist), zählt zu seinen Stärken. Aber auch, wie die historisch-politischen Frakturen, die dieses außergewöhnliche Leben bestimmen, geschildert und zueinander in Bezug gesetzt werden, gelingt bemerkenswert. Denn Annettes Weg von der Résistance zur FLN ist ja kein selbstverständlicher. Sie wendet sich schließlich gegen das antifaschistische Frankreich de Gaulles (und des jungen Mitterrands), das als Kolonialmacht die Unabhängigkeitsbestrebungen in Algerien brutal zu unterdrücken versucht. Diese Widersprüche und Brüche der Geschichte des 20. Jahrhunderts leuchtet der Text wunderbar aus; die Sphären des Privaten und des Politischen werden so kunstvoll und scheinbar mühelos miteinander verschränkt, dass die erzählerische Leichtigkeit des Textes nie verloren geht.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn dies ist eben kein bloß verkleideter Roman, sondern wirklich der Versuch, im Erzählen anderes, lange unbearbeitet gebliebenes Terrain neu zu erkunden. Dialoge gibt es in diesem Text so gut wie gar nicht, über weite Strecken wird lediglich berichtet – doch Eintönigkeit oder Langweile stellt sich beim Lesen dennoch nicht ein, denn der „hohe Ton“ der Epopöe wird hier glücklicherweise vermieden. Stattdessen weht ein erfrischender Hauch von ironischer Selbstdistanzierung durch das Buch, der die Strenge und scheinbare Sperrigkeit der Form wunderbar kontrastiert und auflockert.
Man darf also begründet hoffen, dass Anne Webers bemerkenswertes Buch nicht auf die gleiche Weise in der Versenkung verschwindet wie die vorangegangenen Versuche, das Erzählen in Versen zu rehabilitieren. Dieser Text hat es unbedingt verdient, zu bleiben, als Würdigung der Lebensgeschichte einer höchst außergewöhnlichen Frau und als ausgesprochen geglücktes erzählerisches Experiment.
Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-95757-845-7.
Ein Gedanke zu „Ein Leben für den Widerstand“