Der zweite Roman des schwäbischen Autors Kai Wieland, Zeit der Wildschweine, ist wieder ein Wurf: Die Suche nach Lost Places in Nordfrankreich wird für den Reisejournalisten Leon zur Erkundung des eigenen Ich. Doch kein schnöder Selbstfindungsroman mit simplen Botschaften erwartet hier die Leser*innen, sondern eine raffiniert erzählte, tiefgründige und sprachlich wunderschöne Erzählung über die Schwierigkeit, das Leben sinnvoll zu gestalten.
Die Suche nach sich selbst, die Sehnsucht nach dem wirklichen, authentischen, bedeutungsvollen Leben sind wohl ewige Themen der Literatur. Und solche, bei dem es schnell peinlich werden kann. Denn so oft auch vermeintlich tiefgründige und bedeutungsschwere Selbstfindungsgeschichten in Romanform vorgelegt werden, so selten pflegen diese auch wirklich zu glücken. Als Leser sollte man also eher gewarnt sein, wenn wieder mal ein Buch auf den Markt kommt, in dem ein erzählendes Ich den drängenden Imperativ zu vernehmen meint: „Du musst dein Leben ändern!“
Eine Existenz ohne Halt und Bindungen
Und doch: Es gehört zur Tücke des Subjekts (und zum Wesen der Romanform), dass dieser große und universelle Topos nie aus der Mode gerät. Und natürlich gibt es auch immer wieder auch Gegenwartsromane, die die altbekannte Frage nach dem Ich und seinem Verhältnis zur Welt aus durchaus origineller Perspektive zu beleuchten wissen. Das gelingt auch Kai Wieland (*1989) in seinem neuen, zweiten Roman Zeit der Wildschweine. Und es gelingt ihm, soviel sei gleich gesagt, hervorragend. Schon der Debütroman des baden-württembergischen Autors, Amerika (2018), war eine Überraschung, entstaubte er doch das etwas glanzlose Genre des Dorfromans mit feinem Humor, Sprachgewandtheit und erzählerischer Raffinesse.
Im Mittelpunkt des neuen Romans Zeit der Wildschweine steht Leon, Ende Zwanzig, Journalist und Autor für Reiseliteratur. Er ist der Erzähler des Textes und eine etwas verlorene Existenz, ohne Halt und Bindungen, mit einer Vorliebe für außergewöhnliche Filme und das Alleinsein. In einem Kickboxstudio lernt er eines Tages den rätselhaften Fotografen Janko kennen, einen noch viel größeren Außenseiter als er selbst. Als Leon den Auftrag erhält, einen Reiseführer zu Lost Places in Nordfrankreich zu schreiben, nimmt er Janko auf die Fahrt mit. Leon soll die Texte, Janko die Fotos zum Projekt beisteuern. Die Reise gerät bald zu einer Art intellektuellem Zweikampf, nicht nur über die Frage, welche Orte man tatsächlich besuchen soll, sondern auch darüber, welche Darstellungsform überlegen ist, Wort oder Bild? Dann taucht auch noch (buchstäblich aus den Meeresfluten) eine Surferin an der Kanalküste auf, die geheimnisvolle Zohra, die beiden Männern recht schnell den Kopf verdreht und sie endgültig zu Rivalen macht.
Verflechtung von Darstellung und Reflexion
Mit diesem Erzählstrang wird eine zweite Handlungsebene verknüpft: Daheim im ländlichen Schwabenland (kurz vor der Abreise nach Frankreich) wird Leon unerwartet zum Hausbesitzer. Sein älter werdender Vater möchte die zu große Immobilie im Grünen loswerden und tauscht mit dem Sohn kurzerhand den Wohnsitz. Doch Leon kommt mit der neuen Situation nicht richtig zurecht: Auch ihn überfordern Haus und Garten; vor allem aber machen ihm der neugierige Nachbar (ein alter Freund des Vaters), seine umtriebige Schwester Jana und nicht zuletzt Erinnerungen an die Kindheit und die durch Suizid früh verstorbene Mutter zu schaffen. Nach der Reise durch Nordfrankreich wieder in der schwäbischen Provinz angekommen, gerät auch hier für Leon einiges immer mehr aus dem Gleis.
Was den Roman so bemerkenswert macht, ist neben der souveränen Handhabung der zwei Handlungsstränge auch die narrative Verflechtung von Darstellung und Reflexion – man findet so etwas leider nicht oft in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Philosophische und ästhetische Überlegungen Leons nehmen breiten Raum ein und werden geschickt mit der Handlung verknüpft. So fühlt sich der Erzähler durch Janko immer wieder an die Figur des Tyler Durden aus Fight Club erinnert (Roman von Chuck Palahniuk, Verfilmung von David Fincher). Und tatsächlich stellen sich dann auch beim Lesen zunehmend Fragen: Wie real ist eigentlich dieser Janko? Wie zuverlässig der Erzähler selbst?
Melodische und bilderreiche Sprache
Durchgehend arbeitet der Roman mit Spiegelungen, mit intertextuellen (bzw. intermedialen) Verweisen und Reverenzen, aber nie wirkt der Text dadurch theoretisch überfrachtet oder gewollt bedeutungsschwer, was nicht zuletzt an der wunderbar flexiblen, melodischen und bilderreichen Sprache liegt. Wie der Autor Stimmungen setzt oder Naturphänomene beschreibt, entfaltet beim Lesen einen ganz eigenen, unwiderstehlichen Zauber. Man muss schon sehr suchen, um etwas Vergleichbares in den deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes zu finden.
Am Ende der Geschichte hat Leon widersprüchliche Erfahrungen gemacht: Seine Reise war erfolgreich unerfolgreich, denn die verlassenen, einsamen und verschwunschenen Orte sind längst von anderen entdeckt und besetzt. Auch mit der Selbstfindung Leons hat es – so viel darf man wohl verraten – nicht so recht funktioniert. Aber muss es das richtige Leben nicht doch irgendwo geben, und sei es im Falschen? Vielleicht. Vielleicht ist nur die Suche danach einfach unabschließbar und das Ziel bleibt wie der Horizont immer gleich weit entfernt, so nah Leon ihm auch zu kommen versucht. Denn der entlegenste und einsamste Lost Place liegt wohl doch im eigenen Ich.
Kai Wieland: „Zeit der Wildschweine“. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 271 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-608-98225-1.