Zum 80. Geburtstag der großen französischen Schriftstellerin Annie Ernaux erscheint auf Deutsch ein weiterer Teil ihres autobiographischen Erzählprojektes: In Frankreich schon vor einem knappen Vierteljahrhundert erschienen, erzählt der Band Die Scham von einem traumatischen Kindheitserlebnis, das für immer Spuren im Bewusstsein der Protagonistin hinterlässt.
Man muss sich schon wundern: In Frankreich gilt die nun 80jährige Annie Ernaux seit langem als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen ihrer Generation; in Deutschland dagegen – peinlich für den hiesigen Literaturbetrieb – bekommt sie erst seit kurzem die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Gewiss, schon Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre kamen ein paar deutsche Ausgaben ihrer Texte auf den Markt, doch erst ab 2017, als Frankreich auf der Frankfurter Buchmesse Gastland ist und bei Suhrkamp die Übersetzung von Ernaux‘ vielleicht wichtigstem Werk Die Jahre erscheint, scheint man hierzulande zu begreifen, was für eine außergewöhnliche Literatin die Französin ist. Sukzessive bringt der Verlag nun auch die älteren Bücher Ernaux‘ in Neuübersetzungen von Sonja Finck heraus.
Unabhängig von Strömungen und Zeitgeschmack
Vielleicht hat diese plötzliche (Wieder-)Entdeckung etwas mit dem anhaltenden Erfolg des sogenannten autofiktionalen Schreibens zu tun, mit der Abwendung von einer reinen Fiktion hin zur literarischen Erkundung der eigenen Biographie. Dieser Boom, der so unterschiedliche Autor*innen wie Elena Ferrante, Karl Ove Knausgård oder Emmanuel Carrère weltweit auf die Bestsellerlisten katapultiert hat, mag auch Annie Ernaux zugutegekommen sein. Doch ihre Texte nur als Teil einer literarischen Mode zu begreifen, wäre ein gewaltiger Irrtum. Zu lange schon und zu ernsthaft, ganz unabhängig von Strömungen und Zeitgeschmack, arbeitet diese Autorin an ihrem Projekt, das man unter den etwas drögen Begriff einer „erzählenden Soziologie“ zu bringen versucht hat.
Denn anders als etwa in der unerträglichen, keine Banalität auslassenden Selbstbespiegelungsprosa eines Karl Ove Knausgård geht es in Ernaux‘ Texten um keine sezierende Mikroskopierung des Ichs. Stattdessen versucht diese Schriftstellerin, ihre eigene Vergangenheit anhand höchst präziser und anschaulicher Milieubeschreibungen zu vergegenwärtigen. Dabei geht es aber nie um Vollständigkeit, nie um die Wiederherstellung einer holotischen Identität, sondern um ein bewusst fragmentarisches Erinnern, das die Geschichtlichkeit der eigenen Entwicklung herausstellt.
Scham wird zur „Seinsweise“
Auf Deutsch ist nun mit Die Scham ein weiterer Teil dieses Schreibprojektes erschienen (das französische Original stammt aus dem Jahr 1997), der an die früheren Bücher über den Vater und die Mutter, Der Platz (1983) und Eine Frau (1988), anknüpft. Erzählt wird hier von der Kindheit der Protagonistin. Wir befinden uns in einem kleinen, im Text nur Y. genannten Nest in der Normandie. Man schreibt das Jahr 1952.
Am Beginn steht ein zentrales Ereignis, ein Wendepunkt im Leben der Erzählerin: An einem Junisonntag streiten sich am Mittagstisch die Eltern, der Vater rastet aus, wird gewalttätig und tötet beinahe die Mutter. Doch dann ist alles scheinbar wieder gut: Man reißt sich zusammen, kurz darauf bricht die Familie zum sonntäglichen Fahrradausflug auf. Dem Kind allerdings ist ein nie gekannter Schrecken in die Glieder gefahren. Bald jedoch weicht die Angst vor einer Wiederholung der schieren Brutalität dem ganz anderen, subtileren und dauerhafteren Gefühl der Scham. Diese Empfindung wird das Mädchen nicht mehr los, sie bestimmt fortan ihr Leben, bis heute, wie sie bekennt: „Die Scham ist die letzte Wahrheit. […] Die Scham wurde für mich zu einer Seinsweise.“
Rekonstruktion der sozialen Verhältnisse
Um die Ursprünge dieses Gefühls zu erkunden, versucht die Erzählerin, die Erinnerung an ihre Kindheit, an jenen Sommer 1952 heraufzubeschwören. Doch ein Zugang zu dem Mädchen, das sie einst war, scheint unmöglich. Ein anderes Erinnern muss helfen, eines, das kein Sich-Hineinversetzen in ein früheres Ich-Stadium bedeutet, sondern den scheinbaren Umweg einer Rekonstruktion der sozialen Verhältnisse, in denen die Erzählerin aufgewachsen ist, nimmt:
„Um meine damalige Lebenswirklichkeit zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten.“
Präzise erkundet die Erzählerin, zur „Ethnologin meiner selbst“ werdend, diese Lebensbereiche: Das Milieu der Arbeiter und Kleinbürger von Y., die Welt der Kneipe und des Ladens, die ihre Eltern betreiben – eine Welt, in der jeder alles über den anderen weiß, Dialekt gesprochen wird und strikt getrennte und hierarchische Geschlechterrollen existieren. Dann die Schule, ein von Nonnen geleitetes katholisches Mädchenpensionat: Wissen und Religion verschmelzen hier, das strenge Reglement schnürt das Kind in ein Frömmigkeitskorsett ein, das Individualismus und jegliche freie Persönlichkeitsentfaltung fast vollständig unterdrückt.
Unverwechselbarer Stil
Einige wenige Freiheiten gibt es dennoch. Die Schlager der Saison vermitteln eine flüchtige Ahnung von anderem, vom Reisen und dem noch unentdeckten Kontinent der Liebe und des sexuellen Begehrens. Durch die Gewalt des Vaters jedoch werden dem Mädchen all die Begrenzungen und Bedingtheiten seiner ärmlichen Herkunft, die Bigotterie der Erwachsenen, unter denen es aufwächst, schlagartig und für immer bewusst. Die Scham verdrängt die Unschuld des Kindes.
Annie Ernaux‘ Stil ist unverwechselbar. Gewiss, der fragmentierte, selbstreflexive und stets von leiser Melancholie grundierte Tonfall erinnert gelegentlich an Marguerite Duras (ein erklärtes Vorbild der Autorin), und wenn man will, kann man die ältere Kollegin für stilistisch überlegen halten. Doch während sich Duras für die sozialen Verhältnisse nicht oder nur marginal interessiert, liegt die große Stärke dieser Schriftstellerin darin, ihre hoch präzisen, ja analytischen Beobachtungen der gesellschaftlichen Gegebenheiten mit einer sinnlich-poetischen Anschauungskraft darzustellen. Es ist diese fein austarierte, höchst kunstvolle Balance zwischen Poesie und Soziologie, die Ernaux‘ Prosa so unwiderstehlich macht.
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 110 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-518-22517-2.