Arno Schmidt gilt als schwieriger Autor, nicht ganz zu Unrecht. Doch diesen Solitär der Nachkriegsliteratur, der nicht nur an den Expressionismus der 1920er Jahre, sondern auch an die Erzählexperimente der Romantik anknüpft, sollte man unbedingt lesen. Zum Einstieg eignet sich die kommentierte Edition seiner frühen dystopischen Erzählung Schwarze Spiegel.
Die deutsche Nachkriegsliteratur ist im Grunde eine ziemlich langweilige Angelegenheit. Sicher, Autoren wie Wolfgang Borchert, Günter Eich, Heinrich Böll, Alfred Andersch, Siegfried Lenz oder Martin Walser sind wichtige Marksteine der bundesdeutschen Literaturgeschichte. Niemand zweifelt ernsthaft daran, dass die erzählende Prosa dieser Herren eine bedeutende Rolle spielte bei der Bewältigung des Zusammenbruchs und der Aufarbeitung einer monströsen Schuld. (Und ja, es waren nahezu ausschließlich Männer, die breit rezipiert wurden – in der DDR, aber auch in Österreich sah es etwas anders aus.)
Dominanz eines farblosen Realismus
Aber gut siebzig Jahre nach Kriegsende wirkt doch vieles, was hierzulande in den 1950ern und frühen ’60ern viel Aufsehen erregte, ziemlich verstaubt. Vor allem stilistisch hat die Nachkriegsprosa nicht allzu viel zu bieten – es dominiert ein recht farbloser und seichter, maßgeblich an Vorbildern aus den USA wie Ernest Hemingway oder F. Scott Fitzgerald oder französischen Existentialisten wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus geschulter Realismus. Diese Verengung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten fällt umso stärker auf, vergleicht man die Texte mit der ungeheuer vielfältigen, mutigen und schillernden Literatur unmittelbar vor der Nazi-Herrschaft. Doch ein Anknüpfen an die Kunst der Weimarer Republik, die man nicht nur politisch, sondern auch kulturell als gescheitert ansah, war nach 1945 schwierig. Allenfalls die Neue Sachlichkeit ließ man noch gelten, von den expressionistischen Romanexperimenten eines Alfred Döblin oder Hans Henny Jahnn dagegen wollte man ebenso wenig wissen wie von der epischen Exuberanz des Großbürgers Thomas Mann.
Doch das ist nicht das ganze Bild. Denn es gab nach ’45 durchaus junge Romanautoren, die an die literarischen Höhenflüge der Weimarer Zeit anknüpfen wollten. Wolfgang Koeppen etwa fand für Tauben im Gras (1951) ein wichtiges Vorbild in Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin, ohne dessen Einfluss auch Günter Grass‘ aufsehenerregendes Debüt Die Blechtrommel (1959) nicht denkbar ist. Und der vom Osten in den Westen migrierte Uwe Johnson ließ sich für seine Mutmassungen über Jakob (1959) nicht vom omnipräsenten Hemingway inspirieren, sondern eher von dessen spröderem und erzählerisch mutigerem Zeitgenossen William Faulkner. Doch so erfolgreich diese Romane auch wurden, ihre Lust am Formexperiment fand erstaunlich wenig Wiederhall.
Verantwortung dafür trug tatsächlich eher die Kritik als die Kunst selbst, nicht zuletzt das nach dem Krieg rasch an Macht und Einfluss gewinnende, sehr präpotent und teilweise auch aggressiv auftretende Kritiker-Kartell namens Gruppe 47, das als moralisch-ästhetischer Wächter über die Literatur der frühen Bundesrepublik eine durchaus ambivalente Rolle spielte. Die abgebrochene Tradition wurde jedenfalls nicht wiederaufgenommen und die Anschlussfähigkeit der deutschen an die Weltliteratur blieb dadurch nach dem Krieg, wie der Schriftsteller Daniel Kehlmann einmal bemerkte, für Jahrzehnte aus.
Anknüpfen an die Avantgarde
Von der Gruppe 47 weitgehend ignoriert oder nur als Einzelfall abgetan wurde auch der vielleicht radikalste Autor der frühen Bundesrepublik, der Norddeutsche Arno Schmidt (1914-1979). Er versuchte, konsequenter als alle seine Kolleg*innen, an die avantgardistischen Innovationen der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen. Rasch als exzentrisch und schwierig verschrien, zog sich Schmidt nach Anfangserfolgen bei einem Teil der Kritik (weniger beim Publikum) in den frühen 50er Jahren nach Bargfeld in der Lüneburger Heide zurück. Dort arbeitete er, zum etablierten Literaturbetrieb größtmöglichen Abstand haltend, bis zu seinem Tod kontinuierlich und unbeirrt an einem Prosawerk, das immer noch zum Interessantesten und Herausfordernsten gehört, was die europäische Literatur jener Zeit zu bieten hat.
Sein Status als Einzelgänger und Außenseiter ist aber sicher nicht nur einem eigenwilligen Charakter und dem neuromantischen Geniekult der Autorschaft, den Schmidt beharrlich (aber immer auch ein wenig selbstironisch) pflegte, geschuldet. Und auch nicht allein der Tatsache, dass seine Texte es den Leser*innen nicht leicht machen. Schmidt war auch deshalb ein Einsiedler als Mensch wie als Schriftsteller, weil sich seine Werke in den Kontext der deutschen Nachkriegsliteratur eben nur schwer einfügen lassen, weil sie weitgehend außerhalb des bundesrepublikanischen Literatur-Mainstreams der 50er, 60er und 70er Jahre stehen.
Vermeintliche Unlesbarkeit
So hat Arno Schmidt, anders als etwa sein Antagonist Heinrich Böll (der stilistisch mit einem Autor wie Johannes Mario Simmel mehr gemein hat als mit Schmidt) nie eine große Leserschaft gefunden. Stets sorgte sich nur ein kleiner Kreis von Spezialisierten und Liebhabern um seine Arbeiten, mit dem berühmten „Bargfelder Boten“ wurde noch zu Lebzeiten Schmidts gar eine Fachzeitschrift gegründet, die sich ausschließlich mit der Exegese seines Werkes beschäftigte. Den Eindruck des Hermetischen dürfte dies bei einem Großteil der Öffentlichkeit noch zusätzlich verstärkt haben. Doch das sind Missverständnisse, die längst ausgeräumt sein sollten. Schmidt ist – wenn man vom Spätwerk, insbesondere von dessen Gipfel, dem Riesenroman Zettel’s Traum (1970), absieht – keineswegs ein inkommensurabler Schriftsteller. Liest man seine früheren Texte aus den 50er Jahren, so ist man erstaunt, wie wenig der Ruf des angeblich unlesbaren Autors mit der Wirklichkeit vereinbar ist.
Zunächst fällt auf, wie kurz die meisten Erzählungen und Romane doch sind. Da ist weniges, was über 100 Seiten hinausginge. Und ja, hier wimmelt es von literarischen Anspielungen und intertexuellen Verweisen, hier wird reichlich Gebrauch gemacht von assoziativen Schreibtechniken, man stolpert über Lautmalereien, unvollkommene Satzkonstruktionen, Bedeutungsüberschneidungen und zahlreiche Neologismen. Schmidt ging es in seiner Literatur nach eigenem Bekunden um „subjektive[…] Versuche[…] einer konformen Abbildung von Gehirnvorgängen durch besondere Anordnung von Prosaelementen“. Aber das klingt komplizierter, als es ist. Wer sich erfolgreich etwa an Döblins schon erwähntem Berlin Alexanderplatz oder an einem der Romane Samuel Becketts versucht hat, dem dürfte die Prosa Schmidts kaum größere Schwierigkeiten bereiten.
Ein einzelgängerischer Bücherwurm
Scheut man jedoch den Sprung ins kalte Wasser und auch das Sich-Verlieren in einer längst unübersichtlich gewordenen Sekundärliteratur, lohnt zum Einstieg der Griff zur kommentierten Ausgabe einer der berühmtesten und besten Erzählungen des Norddeutschen. Schwarze Spiegel, erschienen 1951 als einer der frühesten Texte Schmidts, erzählt von einer dystopischen Zukunft und spielt in den Jahren 1960/62. Auf den Zweiten Weltkrieg folgte bald, so die Fiktion, ein dritter und letzter zwischen den Siegermächten, der in einem Nuklearinferno Leben und Kultur in Europa so gut wie ausgelöscht hat. Der Erzähler, ein einzelgängerischer Bücherwurm und Schriftsteller im mittleren Alter, ist einer von ganz wenigen Überlebenden. Er hat sich in der Isolation gut eingerichtet und ähnelt nicht zufällig in Lebenshaltung und künstlerischen Vorlieben dem Autor selbst. Wie dieser schätzt der Erzähler klassische und romantische Dichter wie Wieland, Tieck und Jean Paul; in seinem durch und durch pessimistischen Weltbild ist das biblische Ungeheuer Leviathan an die Stelle Gottes getreten.
Ab und an reist der Protagonist ins nicht allzu ferne, weitgehend in Trümmern liegende und gänzlich verlassene Hamburg, um sich Bücher aus der dortigen Bibliothek zu besorgen. Auch das ein oder andere Gemälde aus der Kunsthalle, die offenbar ebenso unzerstört geblieben ist, wechselt in seinen Besitz und soll die bescheidene Behausung in der Heide verschönern. Dann geschieht eines Tages das Unerwartete: Ein anderer Mensch, eine Frau, taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf. Man begegnet einander erst feindlich, dann freundschaftlich – rasch entwickelt sich ein Liebesverhältnis. Doch das gemeinsame Glück ist nicht von Dauer, denn in dieser Welt ist kein Raum mehr für Zweisamkeiten. Der Erzähler versucht, die Frau an sich zu binden, eine Gemeinschaft zu gestalten, die sich am vor-apokalyptischen Beziehungsmodell zwischen Mann und Frau orientiert. Doch sie bekennt irgendwann, nicht ohne Ironie: „Mir gehts zu gut bei Dir“. Ihr Drang nach Freiheit, Unabhängigkeit und anderen Erfahrungen ist stärker. Sie geht.
„Fort: Sie war fort! Natürlich! Und ich stand mit geducktem Kopf wie in einem blauen Stein. Blödes Gesicht. Inmitten Pflanzen. In der Rechten ein Paket Streichhölzer.
Gegen Morgen kam Gewölk auf (und Regenschauer). Frischer gelber Rauch wehte mich an: mein Ofen! So verließ ich den Wald und schob mich ans Haus: der letzte Mensch.“
Der Erzähler bleibt wieder allein zurück, doch die Einsamkeit ist eigentlich sein Glück; die Leere ist ihm, dem schrulligen Geistesmenschen, zum Idyll geworden. Denn jetzt, wo Technik und Zivilisation sich selbst ad absurdum und schließlich mit ihren eigenen Mitteln abgeschafft haben, zählen nur noch Individualität und Kultur. Diese ist für den Erzähler kein Massen- oder Gesellschaftsprojekt, sondern die intellektuelle Spielwiese des Einzelnen, in dessen Kopf sich eine bessere, ideelle Welt zur Wirklichkeit formt. Der „Letzte Mensch“ ist also kein auf die Grundbedürfnisse des bloßen Überlebens zurückgeworfener Barbar, sondern ein homme de lettre wie aus dem Bilderbuch. Man hat es hier folglich mit einer durch und durch untypischen Dystopie zu tun, die nicht vor den möglichen Folgen eines „Weiter so“ warnen möchte, sondern den Konsequenzen der Apokalypse gelassen und mit feiner Ironie entgegensieht.
Hilfreicher Kommentar
Mit dem Kommentar der von Oliver Jahn verantworteten Ausgabe der Suhrkamp BasisBibliothek lässt sich den vielen literarischen Anspielungen und Bezügen zu eigenen und fremden, häufig genug nicht-kanonischen Werke der Weltliteratur, mit denen Schwarze Spiegel arbeitet, nachgehen. Auch viele niederdeutschen Ausdrücke, die Schmidt gern und oft verwendet, werden erläutert. Zudem überzeugt das Literaturverzeichnis, hier wird eine hervorragende Auswahl aus der reichen Forschungsliteratur getroffen. Lediglich die in die Marginalspalte am Rand des Primärtextes eingearbeiteten Wort- und Namenserklärungen sind hin und wieder etwas fragwürdig („Mozart: österreich. Komponist, 1756-1791“), hier denkt man wohl an das junge Zielpublikum, für das die Buchreihe konzipiert worden ist – aber liest man Schmidt tatsächlich in der Schule?
Doch so verführerisch der Apparat dieser Ausgabe auch sein mag – nicht immer sollte man alles gleich nachschlagen: Schmidts Prosa hat einen ganz eigenen Klang, eine oft dissonante, aber unverwechselbare und rhythmisch-suggestive Sprachmelodie, der man sich als Leser*in unbedingt einmal direkt aussetzen sollte, auch wenn man auf Anhieb manches nicht versteht. Dem Vergnügen tut das wenig Abbruch. Und wer tatsächlich Gefallen an diesem Text findet, wer liest, nachschlägt, wiederliest und neugierig auf mehr wird – dem öffnet sich ein in der deutschsprachigen Literatur der letzten 70 Jahre einzigartiges Werk von ungeahnter Tiefe, rauer Schönheit und geradezu unerschöpflicher Komplexität.
Arno Schmidt: „Schwarze Spiegel“. Mit einem Kommentar von Oliver Jahn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. Taschenbuch, 154 Seiten. ISBN 978-3-518-18871-2.