In diesem Frühwerk des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño verdüstert sich das romantische Paris der Vorkriegszeit zu einem surrealen Albtraum. Ein geheimnisvoller Dichter droht an Schluckauf zu sterben und ausgerechnet der weltfremde Akkupunkteur und Okkultist Pierre Pain soll ihn retten.
Was ist denn das bitte für eine Geschichte? Paris, April 1938: Die junge Madame Reynaud bittet ihren Bekannten, den Akkupunkteur und Okkultisten Pierre Pain, um einen Dienst. Er soll den Ehemann einer Freundin behandeln, einen gewissen Monsieur Vallejo, der im Krankenhaus liegt und mit dem Tode ringt. Sein Leiden: ein rätselhafter, nicht enden wollender Schluckauf. Pain willigt ein, schließlich ist er ein wenig in Madame Reynaud verliebt. Außerdem fühlt er sich schuldig, hat er doch den Tod ihres Ehemanns nicht verhindern können.
Reminiszenz an Poe, Borges und Cortázar
Doch schon bald geschieht Seltsames: Geheimnisvolle Spanier verfolgen Pain. Er wird bestochen, Vallejo nicht aufzusuchen und sich aus der Angelegenheit herauszuhalten. Immer tiefer verstrickt sich Pain in eine Affäre, die er nicht durchschaut, immer rätselhafter erscheint ihm seine Lage. Wer ist dieser Vallejo und wer verfolgt ihn? Warum verschwindet Madame Reynaud plötzlich spurlos? Und weshalb taucht gerade jetzt ein alter Studienfreund von Pain wieder auf, der seine okkulten Fähigkeiten mittlerweile in den Dienst franquistischer Faschisten gestellt hat?
Es stimmt schon, die Handlung dieses Romans klingt ziemlich an den Haaren herbei gezogen. Ist das also Kolportage, gespickt mit billigen Mystery-Elementen? Weit gefehlt! Denn wir haben es hier mit einem Frühwerk des 2003 verstorbenen Schriftstellers Roberto Bolaño zu tun. Der Chilene, dem erst durch sein posthum erschienenen Opus magnum 2666 der Ruhm zuteil wurde, den er schon zu Lebzeiten verdient gehabt hätte, liebte das literarische Spiel. Und so finden sich in seinen Texten nicht nur zahlreiche Reminiszenzen an Vorbilder wie E. A. Poe, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, sondern immer auch Verweise auf Werke und Topoi der sogenannten Unterhaltungsliteratur. Doch Bolaño wäre nicht Bolaño, wenn er diese Anleihen nicht subtil ironisieren, brechen und sich damit ganz zu eigen machen würde.
Albtraumhafte Szenerie
In diesem Roman, Anfang der achtziger Jahre geschrieben und 1999 veröffentlicht, der jetzt erstmals auch auf Deutsch erscheint, taumelt der Leser durch das schillernde Paris der Vorkriegszeit. Nichts ist hier von der Romantik der Stadt zu spüren, die in den Dreißigern von der Lost Generation (Gertrude Stein, Hemingway, Scott Fitzgerald etc.) beschworen wurde. Die Szenerie hat sich albtraumhaft verdüstert und erinnert eher an die rätselhaften Visionen der Surrealisten. Eine kohärente Handlung, deren Erzählfäden sich am Ende sinnvoll zusammenfügen, sucht man hier vergeblich. Der Reiz besteht stattdessen in der dichten Atmosphäre des Textes, in der Absurdität des Geschehens, der wunderbar leuchtenden Sprache – und nicht zuletzt in den doch reichlich vorhandenen Wirklichkeitsbezügen.
Denn dieser Roman ist nicht einfach nur parodistisch oder als intertextuelle Metaliteratur zu lesen, es wimmelt es von handfesten Realien. Natürlich gab es den ominösen Monsieur Vallejo wirklich, der berühmte peruanische Dichter emigrierte 1937 nach Paris und gründete dort zusammen mit Pablo Neruda und weiteren Getreuen einen antifaschistischen Zirkel zur Unterstützung der spanischen Republik. Und tatsächlich starb er völlig verarmt im April 1938 an einer rätselhaften Krankheit.
Ausbreitung des Faschismus
Was zunächst wie eine bedrohliche Hintergrundmusik anmutet – die gewaltsame Ausbreitung des Faschismus in Europa – erweist sich mit dem Fortschreiten des Romangeschehens mehr und mehr als eigentlicher Kulminationspunkt des Textes. Dabei werden die Parallelen zur Biographie des Autors offenkundig. Bolaño erlebte in Chile als junger Dichter den Putsch des Militärs gegen die sozialistische Regierung Salvador Allendes und musste, selbst kurzzeitig in Haft, mitansehen, wie die hehren Ideale seiner Generation in den Foltergefängnissen des Pinochet-Regimes zertreten wurden. Obsessiv kreisen Bolaños erzählende Texte daher immer wieder um die Frage, wie sich eine künstlerische, poetische Existenz (und Ästhetik) im Angesicht von Gewalt und Faschismus verhält. In Monsieur Pain siecht der Dichter Vallejo und mit ihm die Literatur dahin, während zeitgleich der einfältige Pierre Pain so sehr mit seinen okkulten Interessen beschäftigt ist, dass er die unerbittliche Wirklichkeit nicht zu erkennen vermag.
Viele Motive und Topoi also, die immer wieder in Bolaños Texten auftauchen, sind hier schon versammelt. Und auch, wenn in den späteren Texten manches souveräner gelingt und bezwingender dargestellt wird – als Einstieg in das originäre und reiche Werk des vielleicht letzten großen Magischen Realisten Lateinamerikas eignet sich dieser herrlich verschrobene Roman vorzüglich.
Roberto Bolaño: „Monsieur Pain“. Roman. Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019. 176 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-10-397418-8.