Wenn man künftig die Frage diskutiert, wie nachgeborene Generationen fiktional über die Shoa schreiben können, ohne der Banalisierung oder dem Kitsch zu verfallen, wird man stets auf dieses Buch zurückkommen müssen. Der Roman Kanada des jungen spanischen Autors Juan Gómez Bárcena, der vom qualvollen Weiterexistieren eines Lagerüberlebenden erzählt, ist ein literarisches Meisterwerk unserer Zeit.
Als vor genau einem Jahr in Deutschland wieder einmal ein in der NS-Zeit spielender Roman erschien, Takis Würgers Stella, löste dies eine der heftigsten Literaturdebatten der letzten Zeit aus. Die teilweise sehr harsche Kritik, die das Buch auf sich zog, verknüpfte ästhetische Einwände – der Text sei literarisch wertloser Kitsch – mit der Frage, ob ein vergleichsweise junger, deutscher Autor überhaupt im Recht sei, einen Roman über eine derart komplexe historische Gestalt wie die Jüdin Stella Goldberg (1922-1994) zu schreiben. Diese kollaborierte mit der Gestapo und verriet andere Juden, um ihre eigene Familie zu schützen.
Wer darf eigentlich was und wie erzählen?
Der Roman wurde dennoch (oder gerade deshalb) ein Verkaufserfolg, aber gleichzeitig verstärkte das Buch die ohnehin seit einiger Zeit lodernde Debatte darüber, wer eigentlich was und wie erzählen darf. Die Identitätspolitik der Gegenwart hat, wie sollte es anders sein, längst auch die Literatur erfasst. Die alte These der französischen Poststrukturalisten vom Tod des Autors ist damit passé; Michel Foucaults „Wen kümmert es, wer spricht?“ wurde von anderen, weniger rhetorischen Fragen abgelöst: Ist es legitim, als Autor seinen Figuren eine von einem selbst verschiedene Identität zu verleihen, also eine andere Herkunft, Hautfarbe, soziale Schicht, sexuelle Orientierung etc.?
Der Schlüsselbegriff heißt hier Authentizität. Es wird gefordert, dass AutorInnen aus dem eigenen Erleben, aus der subjektiven, realen Erfahrung heraus schreiben sollten – oder doch zumindest selbst zu derjenigen Gruppe gehören, über die sie schreiben (siehe hierzu den Debattenbeitrag auf 54books). Diese Ansicht ist natürlich in mehrerer Hinsicht problematisch, denn erstens schadet es nicht, einen literarischen Text zunächst einmal für sich selbst sprechen zu lassen und Überlegungen, wer ihn verfasst hat, vorerst beiseite zu lassen. Und zweitens kann gerade solche Literatur besonders interessant sein, bei der sich ein Spannungsverhältnis zwischen der tatsächlichen Identität des Autors bzw. der Autorin und der Identität der Figuren ergibt. Außerdem: Kann Authentizität überhaupt ein valides ästhetisches Kriterium sein?
Schreiben ist Repräsentation und Machtgeste
Doch vielleicht sind diese Einwände ein wenig vorschnell gefasst. Es ist ja richtig, dass alles Schreiben eine Form von Repräsentation, also letztlich eine Machtgeste, darstellt. Indem sich eine Autorinstanz als Subjekt setzt, wird das, worüber sie schreibt – also etwa Figuren mit einer bestimmten Herkunft/Identität/Sexualität -, von ihr vergegenständlicht, zum Objekt gemacht. Die Frage, inwieweit sich AutorInnen differente Identitäten auf diese Weise literarisch aneignen dürfen, ist also weder marginal, noch leicht zu beantworten.
Wenn es allerdings um die Shoa geht, ergibt sich ein Dilemma: Natürlich sind hier die authentischen Stimmen von ganz besonderer Bedeutung, gleichzeitig kann man fragen, ob sich dieses Thema fiktional überhaupt angemessen darstellen lässt. Viele gescheiterte Versuche – Takis Würger ist nur ein Beispiel von vielen, ein anderes wäre der Ire John Boyne (Der Junge im gestreiften Pyjama, 2006) – mahnen hier zu äußerster Vorsicht. Doch die Zeitzeugen sterben aus, die Stimmen von Primo Levi, Jean Améry, Imre Kertesz, Elie Wiesel und anderen sind mittlerweile verstummt. Was aber bedeutet es, wenn es niemand mehr gibt, dessen literarische Darstellung im eigenen Erleben gründen kann? Wenn die Erinnerung lebendig bleiben soll, kommt dann nicht gerade der Literatur die Aufgabe zu, sie mit ihren Mitteln lebendig zu halten?
Von der Literaturkritik weitgehend ignoriert
Einen Versuch, sich der Shoa literarisch zu nähern, hat neben Würger auch der junge spanische Autor Juan Gómez Bárcena (*1984) unternommen, dessen zweiter Roman Kanada auf Deutsch fast zeitgleich mit Stella erschienen ist. Man reibt sich die Augen, wenn man die Rezeption von Bárcenas Buch im deutschen Feuilleton recherchiert, denn sie fand größtenteils einfach nicht statt. Zwei Medien haben den Roman im vergangenen Frühjahr besprochen: die Tageszeitung Die Welt und der Deutschlandfunk. Ansonsten wurde der Text von der deutschsprachigen Literaturkritik schlicht ignoriert. Das ist bedauerlich und unverständlich, denn alles, was Würger missglückt, gelingt Bárcena auf atemberaubende Weise.
Kanada setzt da ein, wo die meisten literarischen und filmischen Darstellungen der Shoa enden, mit der Rückkehr eines Überlebenden aus dem Lager (vermutlich Auschwitz). Ein namenloser Protagonist kommt nach dem Ende des Krieges in seine alte Heimat (vermutlich Budapest); sein Haus, seine Wohnung sind überraschenderweise unzerstört geblieben. Doch der Raum ist besetzt: Ein Nachbar erkennt den Zurückkehrenden und kümmert sich sogleich um ihn, doch die Wohnräume hat er während der Abwesenheit des Deportierten teilweise in Beschlag genommen. Nahezu alle Möbel sind verschwunden, Fremde haben zwischenzeitlich hier gelebt.
Ein riskantes erzählerisches Experiment
Konsequent wird der Roman in der zweiten Person erzählt, der Leser wird direkt angesprochen und verschmilzt auf diese Weise schlechthin mit dem Protagonisten. Das ist ein ebenso riskantes wie effektvolles erzählerisches Experiment, denn so wird eine größtmögliche Identifizierung erzeugt:
„Du gehst durch eine Wohnung, die nicht dir gehört. Sie ist auf dieselbe Weise dein Eigentum, wie der Leichnam eines geliebten Menschen es wäre: Er gehört niemandem sonst, doch er ist auch nicht wirklich dein, du willst ihn so schnell wie möglich mit Erde bedecken und nur die Erinnerungen an ihn behalten. Oder gar nichts behalten – eine leere Stelle.“
Obwohl er nun wieder in seinem alten Zuhause ist, obwohl sich der Nachbar und seine Frau um ihn kümmern (allerdings nicht ohne Eigennutz), will es dem Protagonisten nicht gelingen, in sein altes Leben zurückzufinden. Denn dieses Leben gibt es nicht mehr, es wurde ausgelöscht, so wie seine Existenz ausgelöscht wurde und nur noch ein kümmerlicher Rest von ihm übriggeblieben ist. Man erfährt: Er war einmal Wissenschaftler, Astronom, seine Aufgabe war die Erklärung des Kosmos, der Prinzipien der Welt. Doch alle Erklärungsversuche sind müßig geworden, sinnlos. Seine Bücher, die noch da sind, verbrennt er schließlich im Ofen.
Das Erlebte quält ihn, er kann nicht vergessen, nicht abschließen: „Wenn du etwas gelernt hast, dann, dass nichts je endet“. Gleichzeitig ist es ihm unmöglich, sich seinen Erinnerungen wirklich zu stellen, geschweige denn sie anderen mitzuteilen. Was genau er erlebt hat, bleibt zunächst unklar – ihm selbst und dem Leser. Es ist ein unvollständiges, zerbrochenes und zersplittertes Individuum, das hier erzählt und gerade deshalb nicht ‚Ich‘ zu sagen vermag. Alle Versuche, wieder Halt zu fassen, misslingen.
Literarizität tut der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch
Der Nachbar versucht, dem Protagonisten Arbeit zu verschaffen, ihn ins Leben und die Gesellschaft zurückzuholen. Doch er ist ebenso Helfer wie Wächter. Der Nachbar bleibt lange undurchsichtig und will auch nicht erfahren, was der Namenlose tatsächlich während seiner Abwesenheit erleben musste. So ist die Wohnung für diesen Kerker und geschützter Raum zugleich, doch das eigentliche Gefängnis ist sein Kopf. Erst ein erneuter Gewaltausbruch – der Ungarnaufstand, der gleichsam direkt unter seinem Fenster stattfindet – ermöglicht es ihm schließlich, sich das Erlebte noch einmal zu vergegenwärtigen und wirklich zu begreifen, was geschehen ist.
Das Kunststück, das diesem Roman gelingt, ist ein doppeltes: Es handelt sich hier um einen Text, der die enorme Herausforderung, das eigentlich Unerzählbare zu erzählen, souverän meistert. Der dem Kitsch, der Verflachung, der Stereotypisierung widersteht und die Perspektive eines Opfers mit großer Wahrhaftigkeit darzustellen vermag. Zugleich aber verbirgt der Roman seine Kunstfertigkeit, seine Literarizität nicht. Obwohl Bárcena zu einem ganz eigenen, eindringlichen Stil findet, schimmern Anklänge an Kafka, Borges und Calvino durch. Dass diese Intertexualität der Glaubwürdigkeit des Erzählten keinerlei Abbruch tut, dass sie nie gewollt oder fehlplatziert wirkt, sondern zur Wirkung des Romans erheblich beiträgt, macht die Größe von Kanada aus. Wenn man also künftig die Frage diskutieren will, inwiefern literarisches Erzählen des größten aller Menschheitsverbrechen auch mit wachsendem historischen Abstand möglich und machbar sein kann, wird man an diesem Buch nicht vorbeikommen. Es ist nichts weniger als ein Meilenstein.
Juan Gómez Bárcena: „Kanada“. Roman. Aus dem Spanischen von Steven Uhly. Secession Verlag, Zürich 2018. 192 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-906910-34-5.