Umweltzerstörung, technologischer Wandel, Überbevölkerung, Migration – die Themen in Alfred Döblins ambitioniertem Zukunftsroman Berge Meere und Giganten von 1924 könnten kaum aktueller sein. Denn nach wie vor leben wir in revolutionären Zeiten, die nach einer Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft, Technik und Natur verlangen.
Der Krieg, mit dessen grausamen Auswirkungen Alfred Döblin als Lazarettarzt direkt konfrontiert worden ist, lässt ihn nicht so schnell los. In seinem Roman Wallenstein von 1921 hat er sich mit dem Thema – historisch kostümiert– intensiv auseinandergesetzt. Aber das genügt noch nicht. Der Erste Weltkrieg ist für die europäische Zivilisation ein derart verstörendes und einschneidendes Erlebnis, dass auch Döblins nächstes Romanprojekt um die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts kreist. Dieser Krieg ist nicht nur in seiner globalen Dimension beispiellos gewesen, sondern auch aufgrund der hier erstmals eingesetzten neuartigen Waffentechnik.
Gewaltiger Epochenwandel findet statt
Flammenwerfer und Splittergranaten, Giftgas und Panzer, Flugzeuge und U-Boote hatten die Kampfhandlungen grundlegend revolutioniert und ein Zeitalter des industriellen Tötens durch Maschinen eingeläutet. Am Ende des Krieges türmen sich die Leichenberge in den Schlachtgräben und die Welt schaut entsetzt auf das zerstörerische Potential, das die neuen Waffen entfaltet haben. Aber auch die sozialen und politischen Verhältnisse werden umgekrempelt.
In Russland und Deutschland fegen Revolutionen die überkommenen Herrschaftsordnungen hinweg, die Hoffnungen aber auf eine gerechtere Gesellschaft erfüllen sich nicht. Auf die Autokratie des Zaren folgt Lenins Diktatur, in Deutschland steht die junge Demokratie von Anfang an unter dem massiven Druck reaktionärer Kräfte. Döblin wird unmittelbarer Zeuge dieser technologischen und gesellschaftlichen Zeitenwende. Der Schriftsteller erkennt, welch gewaltiger Epochenwandel hier vor seinen Augen stattfindet. Die Zukunft ist über die Gegenwart hereingebrochen.
Eine neue Perspektive
Döblin kann und will sich nicht mehr mit historischen Stoffen beschäftigen, in denen sich das Zeitgeschehen mehr oder weniger verkleidet spiegelt. Eine neue Perspektive muss her, ein neues Romanprojekt, kühner und wilder noch als alles Bisherige. Die entscheidende Frage, die sich dem Autor unabweisbar aufdrängt, lautet: „Was wird aus dem Menschen, wenn er so weiterlebt?“
Mehr Epos als Roman soll das neue Werk werden, eine umfassende und gründliche literarische Auseinandersetzung mit der modernen Zivilisation und der scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung von Technik und Industrie. Neben sozialen und technologischen Überlegungen beschäftigen Döblin auch metaphysisch-naturphilosophische: Die Natürlichkeit des Menschen, das Kreatürliche seines Wesens wird durch den technologischen Fortschritt auf ganz neue Weise herausgefordert.
Den letzten, entscheidenden Impuls für das neue Projekt erhält der Schriftsteller auf seltsame Weise bei einem Urlaub an der Ostsee im Sommer 1921. Am Strand bemerkt er zufällig einige Steine, „gewöhnliches Geröll, das mich rührte“, wie er später erinnert. „Es bewegte sich etwas in mir, um mich“. Aus den Ferien nach Berlin zurückgekehrt, beginnt er sogleich, intensive naturkundliche Recherchen zu treiben. Wie schon bei seinen vorangegangenen Projekten vergräbt sich Döblin regelrecht in die Materie; er liest und exzerpiert Bücher über Geologie, Meereskunde, Klimatologie, dazu ethnographische Studien und Reiseberichte.
Technokratische Herrschaft verdrängt Demokratie
Die Handlung von Berge Meere und Giganten lässt sich grob in drei nur locker miteinander verbundene Teile gliedern. In den ersten beiden Büchern wird ein geraffter Abriss über die globale Menschheitsentwicklung bis ins 27. Jahrhundert hinein gegeben. Ein desaströser Weltkrieg hat stattgefunden, doch diese Katastrophe ist nur der Ausgangspunkt aller weiteren Ereignisse.
„Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den man den Weltkrieg nannte. In die Gräber gestürzt waren die jungen Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten, die Häuser übernahmen, welche die Toten hinterlassen hatten, in ihren Wagen fuhren, in ihren Ämtern dienten, den Sieg ausnutzten, die Niederlage überstanden. In die Gräber gestürzt die jungen Mädchen, die so schlank und blank über die Straßen gingen, als wäre nie ein Krieg zwischen Männern in Europa gewesen. In die Gräber gestürzt die Kinder dieser Männer und dieser Frauen, die heranwuchsen, an den Häusern bauten, die sie übernommen hatten, die Fabriken bevölkerten, die die Toten errichtet und stehen gelassen hatten.“
Gewaltige technologische Neuerungen haben in der Nachkriegszeit zunächst großen Wohlstand und eine Erleichterung der Arbeitswelt ermöglicht, zugleich aber Dekadenzerscheinungen hervorgebracht. Technokratische Herrschaft hat die Demokratie verdrängt, Überwachung und Unterdrückung vermeintlich systemgefährdender Kräfte sind an der Tagesordnung. In den Städten verelenden allmählich die Massen, gewaltige Migrationsströme ziehen von Afrika nach Europa.
Das Trauma des Ersten Weltkriegs
Mit der Zeit kristallisieren sich zwei Weltmächte heraus, die „Londoner“ in der westlichen Hemisphäre und ein asiatisches System um Indien, Japan und China. Überbevölkerung wird zum wachsenden Problem, bald bricht zwischen West und Fernost erbitterte Feindseligkeit aus: Der „Uralische Krieg“, vom Westen provoziert, wird zum grausamsten Gemetzel der Menschheitsgeschichte – noch einmal hallt in der Darstellung Döblins Trauma des Ersten Weltkrieges wider.
Im dritten und vierten Buch des Romans wird der Fokus dann auf einen begrenzten Raum gelegt, auf die Stadt Berlin. Dort bekämpfen sich die Konzepte der Technikbegeisterung und -ablehnung. Der Berliner Konsul Marke, ein traumatisierter Veteran des Uralischen Krieges, setzt sich für den völligen Abbau der Waffen- und Energieindustrie ein. Nach seinem Tod putscht sich der Biochemiker Marduk an die Macht und setzt den Kurs seines Vorgängers verschärft durch. Er errichtet ein Gewaltsystem und verfolgt Andersdenkende, was wiederum ein militärisches Eingreifen der Weltmacht London nach sich zieht.
Im nun ausbrechenden Krieg begehen Marduks Anhänger schlimmste Gräuel, aus ihrer Technikfeindlichkeit und Fortschrittsskepsis resultiert eine völlige Regression ins Barbarische und Inhumane. Am Ende des vierten Buches schwört Marduk – unter dem Einfluss seiner Geliebten Elina, die einer verbotenen, technologiefreundlichen Untergrundbewegung angehört – der Gewalt ab. Er wird erlöst und stirbt.
Die Naturkräfte wenden sich gegen den Menschen
Der letzte, am meisten das Phantastische berührende Teil des Romans – er umfasst die Bücher Fünf bis Neun – schildert eine Expedition nach Grönland. Hier soll, um neues Siedlungsgebiet zu gewinnen, das ewige Eis abgeschmolzen werden. Zu diesem Zweck wird das Feuer isländischer Vulkane aufwendig nach Grönland transportiert. Dieses gewaltige Unternehmen gelingt zwar, doch unter dem abgetauten Eis erwachen urzeitliche, feindliche Kreaturen: Die Naturkräfte der Erde wenden sich mit aller Macht gegen den Menschen. Mithilfe von biotechnischer Manipulation werden daraufhin die sogenannten „Giganten“ erschaffen – Riesenwesen, die gegen die Urtiere kämpfen und die Apokalypse verhindern sollen.
Am Ende glückt die Rettung – wenn auch unter gewaltigen Opfern, denn nur wenige Menschen haben überlebt. Die durch Technologie provozierte Katastrophe hat sich durch den Einsatz derselben noch einmal abwenden lassen, und der Roman schließt mit dem Ausblick auf ein friedlich-optimistisches Utopia.
Kein politisches Programm
Döblins Berge Meere und Giganten ist ein form- und sprachgewaltiges Romanexperiment, unvergleichbar mit allem, was die deutschsprachige Literatur der Zwanziger Jahre noch hervorgebracht hat. Mehr noch als in den vorherigen Werken lässt der Autor hier seiner Imagination freien Lauf und schert sich um keinerlei Konventionen des Erzählens. Doch so schwierig die Lektüre des Romans auch ist, fünfundneunzig Jahre nach seiner Veröffentlichung sind viele der verhandelten Themen nach wie vor erstaunlich aktuell: Migrationsbewegungen, die Konkurrenzkonflikte zwischen Asien und dem Westen, Urbanisierung, Verelendung der Massen, Entfremdung von der Natur, die gesellschaftlichen und ökonomischen Transformationen durch technologische Entwicklung – unsere Gegenwart diskutiert ganz ähnliche Herausforderungen.
Ein politisches Programm jedoch liefert Döblin nicht, der Roman bezieht Position weder für noch wider die Technik oder ein bestimmtes Gesellschaftsmodell. Diese prinzipielle Offenheit und Nicht-Festlegung auf einen konkreten Standpunkt hat man dem Roman oft vorgeworfen und darin ein Indiz für das Scheitern des Autors an seinem (freilich gigantomanen) Gegenstand erkennen wollen. Doch gerade diese Unschärfe, die zum genauen Lesen und eigenen Denken anregt, macht aller Sperrigkeit zum Trotz einen erheblichen Reiz des Textes aus.
Dystopie, frühe Sciencie-Fiction und Kommentar zur Gegenwart
Als Berge Meere und Giganten 1924 erscheint, ist dem Buch kein großer Erfolg beschieden und Döblin wird wieder einmal von der Kritik enttäuscht. Zwar gibt es, wie auch bei den vorherigen Romanen, teils begeisterte Rezensionen, doch das schwierige Werk findet keine breite Leserschaft. Bis heute wird der Text wenig rezipiert, erst seit den 1970er Jahren wendet sich sich die Literaturwissenschaft auch diesem Roman des Autors verstärkt zu.
Man kann dieses Buch, das ganz unter dem Eindruck der Umwälzungen der zehner und zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden ist, als literarischen Kommentar zur Zeitgeschichte lesen, als Dystopie – Huxleys Brave New World (1932) entsteht nur ein paar Jahre später – oder auch als Science-Fiction avant la lettre. Doch die andauernde Aktualität des Romans lässt sich nicht ausklammern, denn die Zukunft, die Döblins Text prognostiziert, liegt noch vor uns, auch wenn wir an seine Vision – beunruhigenderweise – ein Stück weit näher herangerückt sein mögen. Die Umbrüche, die vor rund hundert Jahren Hoffnung und Schrecken zugleich verbreiteten, sie dauern an.
Alfred Döblin: „Berge Meere und Giganten“. Roman. Mit einem Nachwort von Gabriele Sander. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013. 656 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-596-90464-8.