Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2019: Margaret Atwood knüpft mit Die Zeuginnen an ihre gefeierte Dystopie Der Report der Magd an. Die Themen, die hier aufgegriffen werden, sind leider immer noch aktuell, aber gelingt der Autorin die Fortschreibung ihres wichtigsten Romans?
Ein Geständnis: Ich hatte ein wenig Angst vor diesem Buch. Wenn eine Autorin oder ein Autor nach Jahrzehnten an einen früheren, gefeierten Roman unmittelbar anzuknüpfen versucht, geht das nicht selten schief. Günter Grass etwa misslang die Wiederbelebung seines Helden aus der Blechtrommel, Oskar Matzerath, in der peinlichen Fortsetzung Die Rättin nach über einem Vierteljahrhundert auf spektakuläre Weise. Und auch Patricia Highsmith – eine der besten amerikanischen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts – konnte 1991 mit dem letzten Aufguss ihrer Reihe um den schillernden Verbrecher Tom Ripley nicht mehr an deren gloriosen Beginn anschließen.
Die vielleicht beste Dystopie überhaupt
Margaret Atwoods Der Report der Magd aus dem Jahr 1985 ist die vielleicht beste literarische Dystopie überhaupt, sprachlich viel eleganter und raffinierter gebaut als 1984 oder Schöne Neue Welt. Der Roman spielt in Gilead, einem Nachfolgestaat der USA. Diese sind, so die Fiktion, von Natur- und Nuklearkatastrophen heimgesucht worden, woraufhin die religiös-fundamentalistische Sekte „Söhne Jakobs“ die Macht ergreifen und eine auf alttestamentarischer Gesetzgebung fundierende Diktatur errichten konnte. Die Demokratie ist abgeschafft, Andersdenkende werden brutal verfolgt, öffentliche Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Da die Geburtenraten niedrig bleiben, halten sich die wohlhabenderen Familien der Führungselite sogenannte „Mägde“. Das sind Frauen, deren früherer Lebensstil in den Augen der neuen Machthaber zwar fragwürdig gewesen ist, die aber fruchtbar sind und daher nicht zur Zwangsarbeit verurteilt werden. Stattdessen sollen sie den Nachwuchs der kinderlosen Familien gebären.
In dieser entsetzlich demütigen Rolle findet sich die Erzählerin des Romans Der Report der Magd wieder. Während des Staatsstreiches konnte sie zunächst fliehen, die rettende Grenze zum liberalen Kanada allerdings nicht erreichen. Ihr Lebensgefährte ist verschollen, das gemeinsame, uneheliche Kind wurde ihr entrissen. Nun lebt sie im Hause des Kommandanten Fred, eines hohen Funktionärs des Regimes, von dem sie schwanger werden soll. Was sie sieht, erlebt, fühlt und denkt, zeichnet sie auf. Vor der Außenwelt ihres Namens und ihrer Geschichte beraubt – sie wird als Zeichen ihrer Zugehörigkeit nurmehr „Desfred“ genannt –, lässt sie sich dennoch von dem Regime nicht zerstören. Ihr Widerstand besteht im Erzählen selbst, im Sichtbarmachen der Gegenwart und Festhalten des Vergangenen durch die Erinnerung. So behauptet sie ihre Existenz und Würde in dieser grauenvollen Situation.
Den Nerv der Zeit getroffen
Atwoods Roman traf bei seinem Erscheinen den Nerv der Zeit. Im sogenannten Westen folgte auf die Emanzipationsbewegungen der 60er und 70er Jahre ein konservativer Backlash, der sich in den USA etwa durch das Aufleben des Evangelikalismus und die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten bemerkbar machte. Zeitgleich erstarkte im Nahen Osten, etwa in Iran und Afghanistan, ein islamischer Fundamentalismus, der Frauen- und Freiheitsrechte massiv beschränkte und der Religion das Primat über die Politik einräumte.
Kein Zufall also, dass Atwood diesen Stoff jetzt erneut aufgegriffen hat. Liberalismus und Säkularismus waren seit dem Ende Kalten Krieges nicht mehr so bedroht wie heute. Und auch, wenn in den USA die Evangelikalen während des letzten Jahrzehnts an Bedeutung verloren und Frauen auf der politischen Bühne gewaltig an Einfluss gewonnen haben – angesichts eines so illiberalen und misogynen Präsidenten wie Donald Trump vermag Atwoods Vision immer noch zu erschrecken.
Atwood setzt auf die Mittel des Unterhaltungsromans
Die Handlung des neuen Romans Die Zeuginnen spielt etwa fünfzehn Jahre nach dem Report der Magd. Statt einer haben wir es nun mit drei weiblichen Erzählstimmen zu tun, mit den Teenagern Agnes und Daisy sowie der bereits aus dem früheren Roman bekannten Tante Lydia. Die beiden Mädchen kennen ihre eigene Herkunft zunächst nicht: Agnes lebt in Gilead und ist von einem Kommandanten des Regimes und dessen Frau adoptiert worden; Daisy, die im freien Kanada jenseits der Grenze aufwächst, erfährt durch Zufall, dass die Personen, die sie für Vater und Mutter gehalten hat, nicht ihre wirklichen Eltern sind. Beide Mädchen sind Töchter der ehemaligen Magd Desfred, die aus Gilead fliehen konnte.
Lydia gehört zur (weiblichen) Führungsschicht des Staates und zeichnet sich nach außen hin durch Strenge und Kaltblütigkeit aus, insgeheim jedoch arbeitet sie an der Zerstörung des Systems von innen. Im Verlauf der Handlung kreuzen sich ihre und die Wege von Agnes und Daisy. Lydia spinnt eine Intrige, für die sie die Mithilfe der Mädchen benötigt.
Stilistisch wie von der Konzeption der Geschichte her ist Die Zeuginnen ein völlig anderes Buch als der Vorgänger. Von der Dringlichkeit, Düsterkeit und sprachlichen Verdichtung, die den Report der Magd auszeichneten, ist hier nicht viel übrig geblieben. Stattdessen setzt Margaret Atwood nun auf die literarischen Mittel des Unterhaltungsromans, auf eine vorwärtstreibende Handlung, starke Effekte und zahlreiche Cliffhanger. Besonders die den beiden Mädchen gewidmeten Teile erinnern sprachlich eher an Jugendliteratur. Im Gegensatz dazu ist die Figur der Lydia komplexer und widersprüchlicher gearbeitet. In ihrem Bericht, der sich durch Introspektion, Reflexion und detaillierte Beobachtungen auszeichnet, spiegelt sich etwas vom sprachlichen Glanz des Vorgängerbuches wider.
Trennlinie zwischen Opfern und Tätern verläuft unscharf
Gerade diese Parallelisierung der doch so unterschiedlichen Charaktere, der unterdrückten und missbrauchten Magd Desfred und ihrer ehemaligen Peinigerin, ist der interessanteste Aspekt des ganzen Romans. Denn ähnlich wie Desfred im Report war Lydia zunächst ein Opfer des Umsturzes. Aus ihrer Erzählung erfahren wir, dass sie zuvor als Richterin gearbeitet hat und durch die Machtübernahme der Sekte von heute auf morgen all ihrer Freiheiten und Rechte beraubt worden ist. Dann hat sie aus der Ohnmacht neue Kraft geschöpft und die Seiten gewechselt. Halb aus Not, halb aus dem Ehrgeiz, sich nicht völlig unterdrücken zu lassen, ist sie übergelaufen und hat ihre Talente und Begabungen dem Terrorregime zur Verfügung gestellt. Man begreift anhand dieser Schilderung, wie sehr sich Opfer- und Täterbiographien in einer Diktatur manchmal ähneln können. Die Trennlinie zwischen beiden Existenzen kann unscharf werden.
Diese kluge Einsicht ausgenommen schafft es der Roman jedoch nicht, zu einer originären Darstellung der Schrecken Gileads zu finden. Die inhumanen Grausamkeiten des Regimes, die hier geschildert werden – die öffentlichen Demütigungen, Hinrichtungen und Quälereien – sind lediglich Aufguss und Reprise. Auch über die Natur des Regimes, über seine innere gesellschaftlich-politische Verfasstheit, erfährt man so gut wie nichts Neues. Wenig glaubhaft bleibt auch das geschilderte Ende des Systems durch die von Lydia ausgeheckte Intrige: Lässt sich eine derart grausame und durchorganisierte Diktatur wirklich durch ein paar unangenehme Enthüllungen über ihr Führungspersonal in die Knie zwingen?
So liest man dieses kurzweilige und allzu süffig geschriebene Buch zwar ganz gerne und staunt, wie enorm versiert und anregend Margaret Atwood auch mit fast achtzig Jahren noch zu erzählen vermag. Doch auch, wenn diese Rückkehr nach Gilead keineswegs misslungen ist – aus dem Schatten seines grandiosen Vorläufers kann der Roman nicht treten.
Margaret Atwood: „Die Zeuginnen“. Roman. Übersetzt von Monika Baark. Berlin Verlag, Berlin 2019. 576 Seiten, Hardcover. ISBN 978-3-8270-1404-7.