Ein provokanter Roman: In „Riwan oder der Sandweg“ erzählt Ken Bugul von ihrem Leben nach einer verstörenden Migrationserfahrung: Aus Europa in den Senegal zurückgekehrt, ordnet sie sich freiwillig in die patriarchal-polygame Struktur ihrer alten Heimat ein und heiratet einen lokalen Religionsführer. Sie selbst findet damit ihr Glück, doch erzählt wird ebenso von den abgründigen Seiten dieser Lebensweise.
Europa ist das Versprechen, die Verheißung. Europa bedeutet Hoffnung und Chance auf ein besseres Leben. Wer hierher gelangt, hat es geschafft. So lautet ein gängiges Vorurteil, das dies- und jenseits des Mittelmeeres einen nüchternen Blick auf die Wirklichkeit von Migration und Flucht vernebelt. Denn die Realität ist oftmals bitter und wird daher allzu gern ausgeblendet: Was, wenn die neue Welt nicht die bessere ist? Wenn sich die hohen Erwartungen nicht erfüllen und die Ankommenden sich stattdessen in einer Gesellschaft wiederfinden, die ihnen mit Ablehnung, Ausgrenzung, ja Hass begegnet? Was macht man, wenn man sich am Ort seiner Sehnsüchte fremd, unwillkommen, an den Rand gedrückt fühlt?
Schattenseiten der Migration
Diese viel zu wenig diskutierten Schattenseiten der Migration nach Europa hat die senegalesische Schriftstellerin Mariétou Mbaye (*1947) am eigenen Leib und der eigenen Psyche erfahren müssen. Sie schreibt unter Pseudonym, ihr Künstlername Ken Bugul bedeutet „eine, die unerwünscht ist“. Was es heißt, nicht erwünscht zu sein und in der Fremde nie heimisch zu werden, hat die Autorin in ihrem ersten, autobiographischen Roman Die Nacht des Baobab (2016; franz. Le Baobab Fou, 1982) eindringlich beschrieben. Nach dem Erhalt eines Studienstipendiums übersiedelte Mbaye von Dakar nach Belgien, doch in Europa erlebte sie überwiegend Ausgrenzung und sexuelle Gewalt.
In ihrem dritten Roman Riwan oder Der Sandweg (2018; franz. Riwan ou le Chemin de Sable, 1999), der wie das Debüt mit reichlich Verspätung ins Deutsche übersetzt worden ist, schildert Ken Bugul ihre Rückkehr in den Senegal einige Jahre später. Es ist eine Gegenbewegung, die sie hier vollzieht; eine Flucht, wenn man so will, vor der unheimlich gebliebenen Fremde zurück in die Heimat, an den räumlichen und religiösen Ursprung ihrer Existenz. Die Ich-Erzählerin des Romans findet sich jedoch auch im Senegal nicht mehr zurecht. Auch hier ist sie mittlerweile fremd geworden. Für ihre Familie ist sie eine Gescheiterte, die den Sprung ins Glück nicht geschafft hat. Mit leeren Händen steht sie vor den Scherben ihrer Vergangenheit und einer höchst ungewissen, nahezu aussichtslosen Zukunft.
Rückkehr als Befreiung
Also fasst die Erzählerin den Entschluss – und davon handelt der Roman –, die denkbar traditionellste Lebensform für sich zu wählen. Sie schließt sich dem Serigne an, einem lokalen Religionsführer der sufistischen Murīdīya-Bruderschaft, der eine Mischung aus Clanchef, spirituellem Oberhaupt und Bürgermeister ihres Heimatdorfes ist, und wird dessen 28. Ehefrau.
Hierin liegt die Provokation des Textes – allerdings vornehmlich für die westliche Leserschaft, die teilweise verständnislos auf diesen Roman reagiert hat. Denn die Erzählerin erlebt diese Rückkehr und Einordnung in die patriarchale, polygame Struktur ihrer alten Heimat als Befreiung.
„Wie sehr ich bedauerte, mir gewünscht zu haben, anders zu sein, eine quasi irreale Person, von ihren Ursprüngen losgelöst, mitgerissen worden zu sein, beeinflusst, irregeführt, die emanzipierte, vermeintlich moderne Frau gespielt, daran geglaubt, mir das eingeredet zu haben, Sachen verpasst, vielleicht sogar ein ganzes Leben versäumt zu haben. […] Wie konnte ich im Ausland anderes erlebt, sogar geglaubt haben, glücklich zu sein, fern von meinem Heimatdorf, fern von meiner Familie, fern von meinen Freunden aus Kindertagen, fern von diesem Sandweg, den die Füße meiner Brüder und Schwestern über Jahre hinweg gegangen waren?“
Verrat an der Emanzipation?
Ist das nicht ein Verrat an allen emanzipatorischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte, die nicht zuletzt gerade in afrikanischen Gesellschaften darauf abzielen, Mädchen und Frauen aus der Unmündigkeit der von Männern bestimmten und radikal hierarchischen Machtverhältnisse zu befreien? Warum kehrt ausgerechnet eine studierte, welterfahrene Frau wie die Protagonistin in diese archaische Ordnung zurück?
Die Erzählerin empfindet gerade ihr Zurückkommen, ihre Wiedereingliederung in die traditionelle Gesellschaft und Religion als subjektiv emanzipatorischen Akt, denn sie fühlt sich befreit und spirituell gereinigt. Zudem genießt sie als neue Ehefrau des Serigne erhebliche Privilegien. Nicht nur steigt ihr Ansehen im Dorf, als sie, die nicht mehr ganz junge Frau, die als erfolglose Emigrantin zunächst ein Außenseiterdasein geführt hat, von dem mächtigen Mann geehelicht wird. Auch beim Serigne selbst hat sie Freiheiten, die die anderen Frauen nicht besitzen, schätzt er sie doch gerade wegen ihrer in Europa erworbenen Bildung.
So wird die Erzählerin zur wichtigsten Gesprächspartnerin des Mannes und begreift die Beziehung als gleichrangig – so seltsam sich das anhören mag. Auch darf die Protagonistin sich frei bewegen. Sie ist nicht an den abgetrennten Innenhof, in dem sich die übrigen Frauen des Serigne aufhalten, gebunden, sondern kann wann immer es ihr beliebt das Dorf und auch die Metropole Dakar besuchen.
Ihre Freiheit wird symbolisiert vom Sandweg, auf dem sich die Protagonistin ungehindert zwischen den beiden Sphären Dorf und Hof, Außenwelt und Inklave, bewegen kann. Diesen Weg kann außer ihr nur der junge, geistig gestörte Diener des Serigne namens Riwan so frei benutzen, der überdies als einziger Mann Zutritt zum abgetrennten Bereich der Frauen hat. Diese beiden Figuren – die Erzählerin und Riwan – spiegeln sich gegenseitig. Für beide gelten die räumlichen Be- und Abgrenzungen der Geschlechterordnung nicht, beide sind erst nach heftigen Kämpfen mit ihrem eigenen Ich am Hof des Serigne ganz zu sich und zur Ruhe gekommen.
Beeindruckende Frauenporträts
So wenig sich also die Protagonistin ihr Leben an diesem vormodernen Ort abhängig und unterdrückt fühlt, so wenig schildert sie auch das Dasein der anderen Frauen als primär supprimiert. Ehefrau eines polygamen Mannes zu werden, bedeutet in dieser Gesellschaft keineswegs Selbstaufgabe, sondern im Gegenteil Selbstverwirklichung. Doch der Text verschweigt nicht die Kehrseite dieses Lebens. So sehr die Erzählerin auch ihr eigenes Erleben der Wiedereingliederung in das traditionelle System als wohltuend schildert, so sehr sie darauf beharrt, dass diese Art der Existenz für die Frauen keine Form der Unterdrückung sein muss – in dem, was sie erzählt, enthüllt sich auch anderes, Dunkles und Abgründiges.
Da ist etwa die schon etwas ältere Sokhna Mame Faye, die seit über zehn Jahren am Gehöft des Serigne lebt und eine privilegierte Stellung genießt. Sie verfügt im Unterschied zu den meisten anderen Frauen über eine Schulbildung, musste diese jedoch von heute auf morgen abbrechen, als ihr Onkel sie dem Marabout zum Geschenk machte.
Rama wiederum ist eine noch sehr junge, anziehende Frau, die vom Serigne auserwählt und geheiratet wird. Sie genießt die Ehre, die mit dieser Hochzeit einhergeht, genießt das Begehren des älteren Mannes, der mit ihr sehr viel Zeit verbringt, was ihr von Anfang an eine herausgehobene Position innerhalb der Gemeinschaft der Frauen verschafft. Rama erkennt, dass sie sexuelle Macht über den Serigne besitzt und weiß dies geschickt für sich zu nutzen.
„Alle Aufmerksamkeit galt dem Mädchen aus Mbos. So verlockend in seiner Art als scheinbar unterwürfige, ergebene Sokhna. Rama nahm ihre Rolle an und fand Gefallen an ihr, nicht, um ins Paradies zu gelangen, sondern aus Freude. Sie machte dem Serigne gern Freude, weil es ihr guttat, ihm Freude zu bereiten.“
Doch ihre Privilegien enden, als eine Rivalin, noch jünger und schöner, zur Favoritin des Serigne wird. Ihre Zurücksetzung verstört Rama, sie kann dies kaum ertragen, und bald geschieht etwas bislang Unerhörtes und zutiefst Tragisches.
Kontrapunkt zum Erleben der Protagonistin
Buosso Niang dagegen ist keine Ehefrau der Serigne. Sie lebt zwar unter den Frauen, bleibt aber doch außerhalb der Familienstruktur. Sie ist freier als die anderen, ungebunden und auch erotisch autonom. Ihre Sonderstellung, die sie nach außen hin offen demonstriert, hat einen geradezu kathartischen Effekt auf die übrigen Frauen:
„Während des Serignes Ehefrauen, aufgereiht wie senegalesische Puppen, sich arglos ihren Stickereien widmeten, vollführte Buosso Niang erotische Tänze, die die Damen zu vermeintlichen Entsetzensschreien und erregten Verrenkungen hinrissen. […] Buosso Niang war eine freie Frau. Anders als die Frauen des Serigne. Des Serignes Frauen hätten sich ein solches Verhalten nicht erlauben dürfen, selbst wenn sie es gewollt hätten. Doch in dem Raum, in dem sie manchmal zu zehnt oder zu zwölft schliefen, kam es zuweilen vor, dass nachts, wenn des Serignes Gemächer verschlossen waren und bis auf die spielerischen Dämonen des Eros alles in nächtliches Dunkel gehüllt schien, sie sich Tänzen hingaben, noch lasterhafter als die, die Buosso Niang tagsüber vollführte.“
Mit der Darstellung dieser verschiedenen Frauenschicksale am Hof des Serigne, die dann eben doch die Abhängigkeiten und Submissionen zeigt, die in einer derartigen Ordnung vorherrschen, setzt die Erzählung einen wirkungsvollen Kontrapunkt zum subjektiven Erleben der Protagonistin. So entsteht, nicht zuletzt durch eine kunstvoll rhythmische, stark mit Wiederholungen und Punktierungen kurzer Sentenzen arbeitenden Sprache, ein äußerst vielschichtiger Roman, der sich einfachen Wertungen und eindeutiger Interpretation geschickt entzieht. Viel Lob verdient auch die Übersetzung durch Jutta Himmelreich, der es gelingt, die sprachlichen Eigenheiten des Textes eindringlich ins Deutsche zu übertragen.
Ken Bugul: “Riwan oder der Sandweg”. Roman. Aus dem Französischen von Jutta Himmelreich. Nachwort von Susanne Gehrmann. Unionsverlag, Zürich 2018. 256 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-293-20791-2.