Ein Buch mehrmals zu lesen ist eine gute Idee. Denn bei der ersten, fast immer flüchtigen Lektüre entgeht uns oft viel. Eine Wiederbegegnung mit einem Text nach langer Zeit kann aber auch ein Risiko bedeuten. Was, wenn die verklärte Erinnerung dem erneuten Blick nicht standhält?
Die Idee, ein Buch wiederzulesen, erscheint zunächst widersinnig: Warum sollte man sich noch einmal mit demselben beschäftigen, wo es doch hunderte, ja tausende interessanter Bücher gibt, die überhaupt erst entdeckt werden wollen? Zeit ist schließlich das kostbarste aller Güter und es ist ohnehin aussichtslos, in den wenigen Jahrzehnten, in denen man konzentrations- und aufnahmefähig genug ist, all das zu lesen, was wirklich lesenswert ist.
Widerspruch zur Logik des Konsums
Wiederlesen steht im Widerspruch zur Logik des Konsums, die wir nahezu alle – ob wir wollen oder nicht – so sehr verinnerlicht haben, dass Entsagung schwerfällt. Konsum, das bedeutet: Erwerben, Verbrauchen, Verwerfen. Auch das Lesen ist oft und vielleicht sogar in der Regel – machen wir uns nichts vor – Konsum. Dass wir von der Lektüre dennoch profitieren, dass sie uns Unterhaltung, Genuss, Bildung, neue Sichtweisen auf das Ich und die Welt schenkt, steht dem nicht prinzipiell entgegen. Konsumieren muss nicht zwangsläufig dumm, schädlich und oberflächlich sein. Es ist einfach ein erlerntes Verhalten, das sich aus den Regeln der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir nun einmal leben, ableitet. Ein gutes Buch ein Mal und dann nie wieder zu lesen, ist immer noch besser, als es überhaupt nicht zu lesen.
Lesen kann und sollte aber mehr sein als bloßer Konsum. Denn zunächst ist diese Kulturtechnik ja weit älter als der Kapitalismus und wird hoffentlich auch dann noch fortbestehen, wenn vielleicht ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell an die Stelle des gegenwärtigen getreten ist. Überdies ist Literatur ja oftmals so komplex, dass sich ein Text beim einmaligen Lesen überhaupt nicht fassen lässt. Selbst geübte Leser machen die Erfahrung, dass man bei einer zweiten Lektüre zahlreiche Details und Eigenschaften eines Textes entdeckt, die beim ersten Durchgang gar nicht aufgefallen sind.
Wiederlesen ist das eigentliche Lesen
Für den Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Vladimir Nabokov ist daher das Wiederlesen das eigentliche Lesen:
„Es ist seltsam, dass man ein Buch gar nicht einfach lesen kann: man kann es nur wiederlesen. Ein guter Leser, ein mündiger Leser, ein aktiver und schöpferischer Leser, ist immer ein Wieder-Leser. […] Wer ein Buch liest, braucht Zeit, um sich mit ihm vertraut zu machen, denn wir verfügen über kein Körperorgan, das (wie das Auge beim Gemälde) das ganze Bild in sich aufzunehmen und dann seine Einzelheiten zu genießen vermag. Doch verhalten wir uns beim zweiten, dritten, vierten Lesen einem Buch gegenüber in gewisser Hinsicht wie bei einem Gemälde“.[1]
Nabokov ist der Ansicht, dass man ein literarisches Kunstwerk erst dann wirklich zu beurteilen vermag, wenn man es mit seinem „Geist“, dem „inneren Auge“, so gründlich und vollständig erfasst hat wie man ein Bild mit dem Sehorgan begreift – wenn also alle wesentlichen Details präsent sind. Da literarische Texte aber aus etwas so Abstraktem wie Sprache bestehen, ist zuvor die mühevolle Arbeit des wiederholten Lesens unabdingbar.
Natürlich gibt es auch Texte, die einer erneuten Lektüre nicht bedürfen, weil es einfach wenig gibt, das einem entgangen sein mag und es von vornherein nicht lohnt, sich tiefer damit zu befassen. Der klassische Krimi gehört dazu oder die Schmonzette. Wer so etwas mehr als einmal liest, verschwendet wirklich seine Zeit. Im Gegensatz zu den großen Werken der Weltliteratur, die überdauern und sich immer wieder neue Leser erobern, sind solche Texte Eintagsfliegen und Massenware, kurz: simple Konsumartikel. Was nicht weiter schlimm ist, sie wollen auch nichts anderes sein.
Unerschöpfliche Lesarten
Wirklich gute Literatur unterscheidet sich von Schund hauptsächlich dadurch, dass sie prinzipiell unerschöpflich ist. Jede Lektüre bringt verschiedene Sichtweisen hervor und lädt zu immer neuen Deutungen ein. Der Autor und Literaturkritiker Peter Hamm sagte einmal, er würde Romane „über etwas“ gar nicht mehr ernst nehmen. Wer sich ‚über etwas‘ auslassen wolle, der solle Sachbücher schreiben. Was er wohl meint, ist, dass das Wesen der Literatur in jener Uneindeutigkeit besteht, die sich dem allzu Konkreten verweigert.
Worum geht es denn beispielsweise in Kafkas Romanen? Ist Das Schloß ein Text über die kalte Macht der Bürokratie, in der sich die Grausamkeit des kommenden Gestapo- und SS-Staates ankündigt? Oder haben wir es hier mit einer religiösen Metapher zu tun, ist das Schloss der Ort göttlicher Gnade, nach der der Mensch immer nur vergebens strebt? Oder aber handelt es sich um eine Parabel auf den erfolglosen Versuch des modernen, entfremdeten und isolierten Individuums, ins Zentrum des gemeinschaftlichen Lebens zu gelangen? Keine dieser Lesarten ist richtig in dem Sinne, dass dadurch der Text hinreichend erklärt würde. Selbst die Summe aller möglichen Auslegungen erschöpft ihn nicht ganz, immer bleibt ein unbestimmbarer Rest.
Überhaupt kann keine Interpretation eines Textes jemals alleinige Gültigkeit beanspruchen (auch wenn schlechte Deutschlehrer so etwas gelegentlich suggerieren). Und keine der erwähnten Auslegungen von Das Schloß ist falsch, denn Kafkas Text ist so offen, dass jede dieser verschiedenen Interpretationen – und noch unzählige weitere – für sich plausibel erscheint. Aber einzelne Lesarten sind niemals exklusiv, sondern unterschiedliche Möglichkeiten stehen nebeneinander und lassen den Text in seiner ganzen Ambiguität und Offenheit schillern. Das erst macht seine Anziehungskraft aus.
Beim ersten, notwendig oberflächlichen und flüchtigen Lesen erschließt sich ein so verrätselter Text überhaupt nicht. Wer sich nicht auf das verworrene Spiel der verschiedenen Deutungen einlassen mag, dem entzieht und verweigert sich der Text so wie das Schloss im Roman dem armen Landvermesser K. (Lässt sich Das Schloß vielleicht auch als Parabel auf den Prozess der Textauslegung, die Hermeneutik, lesen?)
Ein Großteil der Freude am Lesen besteht also darin, einen Text mehrmals durchzugehen, ihn wirklich zu durchdringen (oder wie Nabokov sagt: sich in ihm zu „aalen“). Wer plötzlich aufspürt, was zunächst verborgen geblieben oder flüchtig überlesen worden ist, der wird ein unvergleichliches Entdeckerglück verspüren.
Das Experiment der Wiederbegegnung
Eine andere Art des Wiederlesens ist die Wiederbegegnung mit einem Text, den man früher schon einmal gelesen hat und dem man sich nun, mit größerem Abstand, noch einmal zuwendet. Die Erfahrungen, die hier gemacht werden können, sind aufschlussreich – und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie uns etwas über uns selbst verraten, oder genauer: über die Wandlung, die wir selbst als Leser und Mensch durchlaufen. Je größer die zeitliche Distanz zwischen der früheren und der erneuten Lektüre, desto spannender wird ein solches Experiment.
Texte, die bei der ersten Bekanntschaft fremd geblieben sind, die man verständnislos oder gar ärgerlich zur Seite gelegt hat, können nun, im Abstand der Jahre, ganz neu, ganz anders zu einem sprechen. Man mag kaum verstehen, wieso man damals nichts mit diesem Roman, diesem Gedicht, diesem Essay anzufangen wusste. Wie konnten mir, als ich sechzehn war, die langen, perfekt ausbalancierten Sätze des Zauberberg nicht gefallen, wo ich doch jetzt von dieser wunderbar verschachtelten Prosa nicht genug bekommen kann? Wieso war ich mit Anfang zwanzig von Trakl oder Gottfried Benn gelangweilt? Man verbucht diese Erfahrungen unter dem Schlagwort der ‚Reife‘ und freut sich, dass man endlich zu schätzen weiß, wofür man früher offenbar zu dumm, zu unerfahren oder zu ignorant gewesen ist.
Risiko der Enttäuschung
Riskanter ist es dagegen, einen Text wiederzulesen, der einem in der Vergangenheit besonders gefallen, der möglicherweise sogar prägenden Einfluss entfaltet hat. Man schlägt ein solches Buch – sofern es kein ständiger Lebensbegleiter ist – mit Unbehagen, manchmal sogar Furcht auf. Nichts ist bitterer als enttäuschte Liebe.
Mit vierzehn oder fünfzehn las ich Jostein Gaarders Kartengeheimnis, ein Buch, das mich damals völlig in seinen Bann schlug. Der Roman handelt von der Reise des zwölfjährigen Hans-Thomas und seinem Vater, einem Gelegenheitsphilosophen, nach Griechenland. Sie sind auf der Suche nach Hans-Thomas‘ Mutter, die Mann und Kind vor Jahren verlassen hat, um sich selbst zu finden. Unterwegs stößt der Junge auf ein merkwürdiges Buch, das vor langer Zeit von einem Bäcker namens Frode verfasst worden ist. In dieser Binnengeschichte erzählt Frode, wie er sich als Schiffbrüchiger auf eine geheimnisvolle Insel rettet. Er hat nur ein seltsames Kartenspiel bei sich, dessen Figuren plötzlich lebendig werden und interagieren. Verschiedene philosophische Konzepte – Platons Höhle und Nietzsches Diktum vom Tod Gottes – werden nachgespielt. Beim Lesen dieses Buches im Buch gewinnt Hans-Thomas wichtige Erkenntnisse über sich selbst und die menschliche Existenz, die er mit seinem Vater während der langen Autofahrt immer wieder diskutiert.
Vielleicht hätte ich auch ohne diese Lektüre später Philosophie studiert, aber mein Interesse daran (und vor allem an der griechischen Antike) wurde doch maßgeblich durch das Kartengeheimnis geweckt. Vor kurzem beschloss ich also, das Buch noch einmal zu lesen – und bereute bald meine nostalgische Rückschau. Nichts war für mich mehr von der Wirkung zu spüren, die dieser Roman damals auf mich ausgeübt hat.
Das hier hat mit Philosophie nur ganz oberflächlich zu tun, dachte ich. Stattdessen sah ich mich mit einer eher esoterisch verbrämten Geschichte und leblosen, papiernen Figuren konfrontiert. Alles hängt in diesem Buch mit allem zusammen, was nur bedeutet, dass nichts mit nichts zusammenhängt. Holperig konstruiert kam mir der Roman jetzt vor und selbst für ein Jugendbuch sprachlich allzu schlicht.
Es ist ein merkwürdiges, durchaus verstörendes Gefühl, eine derartige Enttäuschung beim Wiederlesen zu erleben, auch wenn man sich sagt, dass daran nichts wirklich verkehrt ist: So ist das nun mal, alles hat seine Zeit. Sollte man also lieber nicht zu den Lektüren der Kindheit und Jugend zurückkehren? Vielleicht. Vielleicht ist es wirklich besser, manche Verklärungen früherer Leseerlebnisse nicht überprüfen zu wollen und unhinterfragt zu lassen. Denn nicht immer macht Wiederlesen glücklich.
[1] Nabokov, Vladimir: Die Kunst des Lesens. Aus dem Englischen von Karl A. Klewer. Frankfurt a. M. 2010. S. 12 f.
Eigentlich wollt ich hier ausführlicher kommentieren, aber ich komme nicht dazu… Aber ja: Große Kunst ist immer wieder genießbare Kunst… nur in der Literatur muss man da manchmal drüber streiten… undenkbar dass jemand sagen würde „Kreutzersonate? Schonmal gehört. Iss toll. Aber die kann ich jetzt erst in 10 Jahren wieder hören“ …