Der neue Roman des Skandalautors Michel Houellebecq variiert seine altbekannten Themen. Doch die bisherige Stärke des Franzosen, ein individuelles Schicksal mit der Krise der Gesellschaft zu verknüpfen, verpufft hier weitgehend wirkungslos.
Vielleicht ist ja doch etwas dran an der These, dass nichts am Phänomen Michel Houellebecq interessanter ist als die Reaktionen der Öffentlichkeit, die es hervorruft. Kein Autor der Gegenwart versteht es besser, das Reiz-Reaktions-Schema unserer hypernervösen Medienwelt zu bedienen und für sich zu nutzen. Er ist ein Meister darin, mit minimalen Mitteln ein Maximum an Empörung, also an Aufmerksamkeit, zu generieren.
Wenige Tage vor dem Erscheinen seines neuen Romans – es ist sein siebter – schrieb Houellebecq in der amerikanischen Zeitschrift Harper’s einen Gastartikel mit dem Titel: „Donald Trump is a Good President“. Darin bezeichnete er den weltweit umstrittenen, in Europa geradezu verhassten US-Präsidenten als „abstoßend“ und nannte ihn einen „fürchterlichen Clown“, gleichzeitig aber war er voll des Lobes für dessen Handels- und Außenpolitik.
Konstruiertes Bild eines rechten Provokateurs
Zuverlässig sprang sofort die Entrüstungsmaschine an, ereiferten sich Feuilletonisten und Journalisten über die neue Entgleisung des ‚enfant terrible des Literaturbetriebs‘ (weniger abgedroschene Etiketten waren auf die Schnelle nicht verfügbar). Man stellte die Äußerungen Houellebecqs in einen Zusammenhang zu seinen älteren Verlautbarungen über den Islam („die dümmste Religion“), und fix und fertig war das Bild eines reaktionären Provokateurs, eines Sympathisanten des gegenwärtigen Rechtspopulismus.
Kaum jemand machte sich jedoch die Mühe, die Aussagen Houellebecqs genauer unter die Lupe zu nehmen. Wer den Beitrag in Haper’s wirklich gelesen hat, der kann sich nicht im Zweifel darüber befinden, was der Franzose vom Stil und Charakter des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten wirklich hält: gar nichts. Aber was findet er dann positiv an dessen Politik?
Erstens die Beendigung des militärischen Interventionismus; zweitens die Beschränkung eines ultraliberalen Welthandels, der hauptsächlich zu Lasten regionaler und lokaler Produzenten geht. Dass dies Positionen sind, die auch linke Politiker wie Bernie Sanders, Jeremy Corbyn oder Jean-Luc Mélenchon besetzen – geschenkt!
Gespür für die Bruchlinien unserer Gegenwart
Als der neue Roman Serotonin dann am vergangenen Freitag endlich in Frankreich erscheinen konnte, fiel er auf fruchtbaren Grund. Wo man in der Kulturszene auch hinschaute: Houellebecq war das Gesprächsthema Nummer Eins. Pariser Buchhändler erklärten am Erscheinungstag, sie hätten so gut wie nichts anderes verkauft als Serotonin. Auch bei uns dürfte der Roman sehr schnell die Bestsellerlisten stürmen.
Es gibt aber noch eine zweite Facette des Medienhypes um Houllebecq. Eine, die man nicht einfach mit klug gesteuertem Self Marketing erklären kann. Der Autor hat nämlich – und das seit Beginn seiner Laufbahn – ein ungeheuer feines Gespür für die sozialen und politischen Bruchlinien unserer Gegenwart. Ob Terrorismus, Genmanipulation, Sextourismus oder ‚Islamisierung‘ – die aktuellsten Diskurse finden sich in seinen Texten verhandelt. Es ist schon beinahe unheimlich, wie präzise Houellebecqs Fiktion Aspekte der Wirklichkeit spiegelt. Man denke nur an den Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, der genau einen Tag vor dem Erscheinen von Unterwerfung stattfand.
Auch im Fall von Serotonin scheint der Autor ein tagesaktuelles Thema aufgegriffen zu haben. Schon seit Wochen raunt es durch die Literaturwelt, der Protest der sogenannten ‚gilets jaunes‘, der ‚Gelbwesten‘ gegen die französische Regierung, werde im neuen Roman gleichsam vorweggenommen.
Verlust von Libido und Potenz
Doch der Reihe nach! Worum geht es Houellebecqs jüngstem Roman? Im Mittelpunkt steht, wie immer bei diesem Autor, ein Antiheld, ein Verlierer, der weder mit seinem eigenen Leben noch mit der Gesellschaft zurande kommt. Florent-Claude Labrouste – sechsundvierzig Jahre alt, Angestellter im Landwirtschaftsministerium – blickt zurück auf sein Leben. Er erzählt aus der Zukunft, seine Vergangenheit ist unsere Gegenwart. Wir befinden uns am Ende der 2010er Jahre, Macron ist Staatspräsident.
Florent fühlt sich schlecht, er hat Depressionen und denkt über Selbstmord nach. Sein Arzt verschreibt ihm gegen den zu niedrigen Serotoninspiegel ein neuartiges Antidepressivum, „Captorix“ genannt. Das soll seinen Gemütszustand zwar bessern, verursacht aber als Nebenwirkung auch leider, leider den Verlust von Libido und Potenz. Das ist ein hartes Los für Florent, denn Sex ist eine der wenigen Freuden seines bisherigen Lebens gewesen.
Nachdem er auf den Notebook seiner Freundin, einer jungen Japanerin aus wohlhabender Familie, pornographisches Material gefunden hat, das sie beim Gruppensex mit anderen Männern und sogar Hunden zeigt, zieht er einen Schlussstrich. Er kündigt Beziehung, Job und Mietvertrag auf und begibt sich auf eine Reise, die ihn zugleich quer durch Frankreich und seine Erinnerungen führt.
Bauernprotest gipfelt in Gewalt
Diverse Affären mit verschiedenen Frauen kommen ihm wieder ins Bewusstsein. Besonders die wenige Monate dauernde Beziehung zu seiner ehemaligen Praktikantin Camille beschäftigt Florent so sehr, dass er diese am Ende noch einmal aufsucht. Zuvor jedoch fährt er in die Normandie zu seinem alten Studienfreund Aymeric, einem Rinderzüchter. Wie Florent geht es auch Aymeric, dem Spross eines uralten normannischen Adelsgeschlechts, hundsmiserabel. Seine Frau ist mit einem berühmten Pianisten durchgebrannt, wirtschaftlich ist er am Ende. Die Regulierung der Milchpreise durch die EU ruiniert den Betrieb, die Ferienanlage auf seinem Landbesitz läuft mehr schlecht als recht.
Doch Aymeric will sich nicht einfach geschlagen geben, zumindest nicht, ohne ein Zeichen des Widerstands geleistet zu haben. Mit einigen anderen Bauern aus der Umgebung organisiert er Autobahnblockade, die schließlich in einer brutalen Auseinandersetzung mit der Polizei eskaliert.
Mit den sogenannten ‚Gelbwesten‘ hat dieser Protest allerdings nicht direkt zu tun. Zwar greift Houellebecqs Text durchaus den Konflikt um das wirtschaftlich und infrastrukturell immer weiter abgehängte ländliche Frankreich auf. Doch für den Roman ist das nur ein Nebenschauplatz.
In der Hauptsache dreht sich alles um das verflossene Sexleben des Erzählers Florent, der sich in drastischer Wortwahl an die zahlreichen Blowjobs erinnert, die er genießen durfte. Frauen sind für ihn dabei in der Regel allerdings wenig mehr als „Nutten“ oder „Schlampen“, die konsequent auf ihre Körperöffnungen reduziert werden.
Abwesenheit jeglicher ‚political correctness‘
Ein durch und durch unsympathischer Protagonist ist dieser Florent also, der außerdem noch Homosexuelle, Feministinnen und Politiker, aber auch identitäre Katholiken mit seinen hasserfüllten Schimpfkaskaden überzieht. Diese aufdringliche Abwesenheit jeglicher ‚political correctness‘ sorgt natürlich für Aufregung im Feuilleton, doch darf man nicht den Fehler machen, Autor und Erzähler zu verwechseln. Dieser ist ein gestörter, ein kranker Mensch, der seine eigene Abartigkeit selbst registriert:
„Tatsächlich beginnt mein Verhalten an diesem Punkt, sich mir zu entziehen, fällt es mir schwer, ihm einen Sinn zuzuschreiben, und es beginnt deutlich von einer allgemeinen Moral und im Übrigen auch von einer allgemeinen Vernunft abzuweichen, an der ich bis dahin teilzuhaben glaubte.“
Literarische Tradition des Exzesses
Außerdem wird in der Rezeption gerne übersehen, dass Houellebecq in einer ganz bestimmten Tradition der französischen Literatur steht, einer Tradition des moralischen, ästhetischen und nicht zuletzt sexuellen Exzesses, die vom berühmt-berüchtigten Marquis de Sade über Lautréamont, Huysmans und Céline bis in die Gegenwart reicht. Wie seine Vorgänger rebelliert auch Houellebecq mit einem übersteigert provokanten Stil gegen den Zeitgeist und die herrschende Moral, und verweist auf die dunklen, bösen Kräfte im Wesen des Menschen.
Leider aber ist der Großmeister der Zeitkritik in Serotonin nicht auf der Höhe seiner Kunst. Die sonst so elektrisierende Verknüpfung eines individuellen Schicksals mit der gesellschaftlichen Krise will hier nicht recht glücken. Auf die Dauer wirken all die Obszönitäten und Beschimpfungen ermüdend – ganz anders als etwa bei Thomas Bernhard, mit dem sich Houellebecq seit Jahren beschäftigt. Trotz (oder vielleicht auch wegen) der permanent aggressiven Sprache fehlt es dem Roman an Kraft, Biss und Stringenz. Selbst die Höhepunkte der Spannungskurve wirken über die Maßen kalkuliert und künstlich, ihre Wirkung verpufft im Dauerfeuerwerk greller Effekte.
Und auch als Psychogramm eines triebhaft Gestörten, der sich trotz seiner Unfähigkeit zu menschlichen Bindungen nach der großen Liebe sehnt, kann der Roman nicht überzeugen. Zwar gibt es vor allem gegen Ende von Florents „Reise in die Nacht“ auch Passagen fast lyrischer Zärtlichkeit, doch Houellebecq macht hier nichts, was andere nicht schon besser gemacht hätten. Einem Vergleich etwa mit Philip Roths Meisterwerk Sabbaths Theater (1995), in dessen Mittelpunkt ein ähnlicher Protagonist steht, hält Serotinin nicht stand. Fast hat es den Anschein, als würde das fiktive ‚Captorix‘ nicht nur die sexuelle Kraft des Protagonisten lähmen, sondern auch die narrative Potenz seines Schöpfers.
Michel Houellebecq: „Serotonin“. Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont Buchverlag, Köln 2019. 336 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-8321-8388-2.