Die Baden-Württembergischen Literaturtage haben in diesem Jahr in der Barockstadt Ludwigsburg unweit von Stuttgart stattgefunden. Unter dem Motto „Stadt werden“ richtete das umfangreiche Festival den Blick ganz auf literarische Stadterfahrungen und -geschichten.
Ludwigsburg ist eine hübsche Stadt. Sie liegt etwa zwölf Kilometer nördlich des Stuttgarter Stadtzentrums und damit in ähnlicher Entfernung wie Versailles zu Paris. Das ist gewollt. Ludwigsburg ist keine gewachsene, sondern eine geschaffene Stadt. Dem Beispiel des französischen Sonnenkönigs folgend sollte Ludwigsburg den Herzögen (und später Königen) von Württemberg als Residenz abseits der lärmenden Großstadt dienen. Einen größtmöglichen Kontrast zum einst dicht bebauten mittelalterlichen Stadtkern Stuttgarts errichteten die Herrscher Württembergs hier, mit kerzengeraden, breiten Straßen und Alleen.
Bis heute steht im Herzen der mittlerweile über 90.000 Einwohner zählenden Stadt ein prachtvolles Residenzschloss. Es kommt nicht ganz so spektakulär und maßlos daher wie Versailles, ist dem berühmten Vorbild aber erkennbar nachempfunden. Ein Juwel, für dessen Errichtung der Provinzfürst Eberhard Ludwig einst sein armes Agrarland schröpfte, das aber 1975 immerhin von keinem Geringeren als Stanley Kubrick auf Zelluloid verewigt wurde, als der Kultregisseur hier Szenen für sein Epos Barry Lyndon drehte.
Das westlich vom Schloss gelegene Zentrum Ludwigsburgs weist ein weitgehend einheitliches barockes Stadtbild auf. Ein großzügig angelegter Marktplatz lädt zum Flanieren und Verweilen ein und dient im Winter dem pittoresken Weihnachtsmarkt als Kulisse.
Ludwigsburg feiert 300. Stadtgeburtstag
In diesem Jahr stand und steht die Stadt ganz im Zeichen eines großen Jubiläums: Vor genau 300 Jahren, anno 1718, erhielt Ludwigsburg die Stadtrechte. Daher lag es nahe, die 35. Baden-Württembergischen Literaturtage, die in diesem Jahr in Ludwigsburg ausgerichtet worden sind, unter das Motto „Stadt werden“ zu stellen. Dieses Thema ist natürlich unendlich ergiebig, Stadterfahrungen und Stadtgeschichten bilden eine literarische Konstante nahezu aller Zeiten und Kulturen. Aber in unserer Gegenwart, in der das Schlagwort „Urbanisierung“ mit all den damit verbundenen Hoffnungen und Schwierigkeiten wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses rückt, erscheint es lohnend, auch der Literatur zu diesem Thema neue Aufmerksamkeit zu schenken.
Zahlreiche Veranstaltungen haben in Ludwigsburg zwischen dem 13. und 28. Oktober stattgefunden, darunter Lesungen und Autorengespräche, Buchvorstellungen, Ausstellungen und Vorträge. Vier Termine habe ich auf Einladung der Stadt bzw. der Eventagentur Buch Contact besucht, über die ich nun in zwei Beiträgen berichten möchte.
Eine obsessive Liebe zwischen den Kontinenten
Eröffnet wurden die Literaturtage mit der sogenannten Langen Nacht der Stadt; durch die Veranstaltung führten die beiden Kuratoren des Festivals Silke Scheuermann und Matthias Göritz. Zwei Autorinnen und zwei Autoren stellten ihre jüngsten Werke vor, die sich allesamt auf je unterschiedliche Weise mit der literarischen Verarbeitung von Großstadterfahrungen der Gegenwart befassen. Ein reizvolles Thema. Eigentlich. Denn leider war diese Nacht vor allem lang, um nicht zu sagen: langatmig. Das lag weniger an den anwesenden Schriftstellern als an der unstrukturierten und stellenweise geradezu konfusen Moderation.
Den Anfang machte der in Brüssel lebende französische Autor Jean-Philippe Toussaint (*1957). Vier Romane (zusammengefasst unter dem Titel MMMM) hat er über die obsessive Liebe zwischen einer exzentrischen Modeschöpferin namens Marie und einem namenlosen Ich-Erzähler, dessen Hintergrund und Biographie eine völlige Leerstelle bleibt, geschrieben. Der Mann folgt seiner Geliebten zu ihren Vernissagen durch die halbe Welt, unter anderem nach Tokio und Shanghai. Ständig balanciert diese Amour fou zwischen Nähe und Distanz. Man kann nicht mit, aber auch nicht ohne einander glücklich werden. Gerade diese Unmöglichkeit eines Gelingens in der Liebe hat Toussaint beim Schreiben, wie er sagt, sehr gereizt. Sein Text ist erkennbar am nouveau roman geschult – der Autor hatte in Alain Robbe-Grillet einst einen Mentor -, bricht dessen minimalistischen Stil aber immer wieder auf.
Durchlässigkeit für die Welt und ihre Geschichten
Völlig anders geartet ist die Literatur von Aleš Šteger (*1973). Für seinen Prosaband Logbuch der Gegenwart ist der slowenisch schreibende, aber perfekt deutsch sprechende Autor und Übersetzer in die unterschiedlichsten Städte gereist, nach Ljubljana und Fukushima, nach Mexico City und Belgrad. Dort hat sich Šteger der Herausforderung gestellt, jeweils innerhalb von nur zwölf Stunden seine Begegnungen, Erlebnisse und Eindrücke in einen Text zu gießen, der dann später keinerlei Veränderungen und Lektorat mehr erfahren hat. Dieses unmittelbare, unvorhersehbare und riskante Schreiben ist äußerst reizvoll, wie Stegers intensiver und bedrückender Text über einen Park in Belgrad beweist. Zahlreiche Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und afrikanischen Ländern warten hier auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im August 2015 auf ihre Weiterreise nach Mitteleuropa. Ihre Hoffnungen, Wünsche und Ängste hat Šteger mit großer Sensitivität aufgezeichnet. Dabei geht es dem Autor um ein, wie er sagt, „Nicht-Erklären“, um die Durchlässigkeit des eigenen Ich für die Welt und die ihm begegnenden Geschichten.
Nach der Pause, die auf Štegers Lesung folgte, hatte sich die Hälfte des Publikums verabschiedet, was angesichts der Gesprächsführung nachvollziehbar, aber dennoch schade war, denn die beiden Autorinnen, die nun ihre Texte vorstellten, zählen zu den am meisten beachteten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Zunächst präsentierte Ulla Lenze (*1973) ihren jüngsten Roman Die endlose Stadt. Hier werden die Leben zweier deutscher Künstlerinnen, die sich in den Metropolen Istanbul und Mumbai aufhalten und dort jeweils ganz eigene Fremdheitserfahrungen machen, miteinander verwoben.
Welche Perspektiven darf Literatur einnehmen?
Lenze berichtete ausführlich über ihre Erfahrungen als Autorin im Ausland. Sie reist gern und viel, lange hat sie in Indien gelebt. Dennoch sieht sie ein gewisses Risiko darin, als westliche Autorin in ärmeren Regionen einer romantischen Sehnsucht nach Zerfall und einer Kultur jenseits unserer Postmoderne zu sehr nachzugeben. Andererseits ist es, wie Lenze betont, gerade dieses Sehnen nach dem Anderen, das die Sprache auf eine immer neue und unvorhersehbare Weise herausfordert. Nie aber, erklärt die Autorin nachdrücklich, würde sie auf die Idee kommen, aus der Sicht etwa einer Inderin zu schreiben, eine solche Aneignung würde sie als anmaßend empfinden.
Dem widersprach die auf Ulla Lenze folgende Autorin Anna-Katharina Hahn (*1970) entschieden. Literatur dürfe ohnehin alles, gerade aber im Einnehmen anderer Perspektiven sieht sie einen besonderen Reiz. In ihrem teilweise Roman Das Kleid meiner Mutter erzählt Hahn aus der Sicht der jungen Spaniern Anita, die zur sogenannten ‚lost generation‘ ihres am wirtschaftlichen Abgrund taumelnden Landes gehört. Im Anschluss an ihr Studium findet Anita keine Arbeit und muss wieder zu ihren Eltern ziehen. Nach deren plötzlichem Tod stößt sie auf das Kleid ihrer Mutter, streift es sich über und wird bald für diese selbst gehalten. Fortan muss sie sich im Kosmos der Großstadt Madrid einer Menge unvorhergesehener und teils unerklärlicher Ereignisse stellen. Es ist ein Roman voller erzählerischer Finten und surrealem Witz, an dem Hahn beim Schreiben – das konnte man im Publikum deutlich spüren – viel Freude gehabt hat.
Sehr interessant waren Hahns Erläuterungen zu ihrer Recherchearbeit für den Text. Um sich in ihre spanische Ich-Erzählerin glaubhaft hineinzufinden, hat sie sich bei in Madrid lebenden Freunden etwa nach Kinderliedern erkundigt. Denn gerade solche Details sind es, so Hahn, die einem Roman Leben und Anschaulichkeit verleihen.
Verschenkte Möglichkeiten
Spät in der Nacht endete dann die Veranstaltung, die mich letztlich einigermaßen ratlos zurückgelassen hat. Warum war man seitens der Moderation nicht auf die Idee gekommen, die vier Autoren miteinander diskutieren zu lassen? Die kurz anklingende Differenz zwischen Ulla Lenze und Anna-Katharina Hahn wäre doch ein wunderbarer Ausgangspunkt gewesen, die verschiedenen Sichtweisen und Schreiberfahrungen miteinander ins Gespräch zu bringen. So wirkten die einzelnen Schriftsteller etwas verloren in einem unausgegorenen Konzept, das willkürlich schien und dessen erhebliche Längen auf die Dauer Ermüdung hervorriefen.
Viel besser gefiel mir dagegen die Lange Kriminacht, die nicht nur mit drei interessanten Autoren (darunter Volker Kutscher), sondern auch einem glänzend vorbereiteten und souveränen Moderator aufwarten konnte. Mehr dazu und zu den weiteren von mir besuchten Veranstaltungen folgt im zweiten Teil meines Berichts.