Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018: Stephan Thomes opulenter Abenteuerroman Gott der Barbaren zeigt China um 1860 in Auflösung, zerrieben zwischen Kolonialismus und brutalem Religionskrieg. So süffig und spannend sich das Buch auch liest, als historischer Roman ist es nicht ganz auf der Höhe der Zeit.
Historische Romane gibt es eigentlich nicht. Jeder Roman, auch der in den Mantel der Vergangenheit gehüllte, erzählt letztlich von der Gegenwart. Stephan Thomes Gott der Barbaren, der es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 geschafft hat, macht da keine Ausnahme.
Der Roman spielt in China um 1860, zur Hochzeit des westlichen Imperialismus also, als europäische Mächte um Märkte, Einfluss und Geltung konkurrieren, das Reich der Mitte dagegen geschwächt am Boden liegt. Es wird von zwei Konflikten zermürbt: Das Britische Empire will im sogenannten ‚Zweiten Opiumkrieg‘ China zur Öffnung für den Welthandel zwingen. Gleichzeitig probt die durch christliche Missionare inspirierte Taiping-Bewegung, eine religiöse Sekte, den gewaltsamen Aufstand und stellt die Herrschaft der mandschurischen Qing-Dynastie infrage.
Ein deutscher Abenteurer im Fernen Osten
Aus der Sicht von drei Figuren erzählt der Roman diese stürmische Zeit im Fernen Osten: Da ist zunächst der Deutsche Philipp Johann Neukamp, ein Abenteurer, der in den Wirren der 1848er-Revolution aus seinem Heimatland fliehen musste, eigentlich nach Amerika auswandern wollte und nun per Zufall als Missionar in Shanghai gelandet ist. Immer tiefer wird er in den Krieg der Sekte hineingezogen, was seine Ideale von Freiheit, Glaube und Selbstbestimmung auf eine harte Probe stellt.
Die zwei Seiten im Opiumkrieg zeigt der Roman abwechselnd aus der Perspektive historisch verbürgter Figuren: Auf der Seite der Briten begegnen wir Lord Elgin, der als Sonderbotschafter Queen Victorias mit Chinas Herrschenden verhandeln soll. Das erweist sich als schwierig, denn der chinesische Hof verweigert sich der brutalen Verhandlungslogik der Kolonialmacht. Um doch noch eine Kommunikation zu ermöglichen und die eigenen Interessen durchzusetzen, erklärt das Vereinigte Königreich China den Krieg und marschiert auf die Hauptstadt zu. Das Regime versinkt derweil im Chaos.
Auf der Gegenseite steht General Zeng Guofan, Kommandeur der wichtigen und schlagkräftigen Hunan-Armee, die die Rebellen im Süden bekämpft. Er ist eigentlich ein Intellektueller, obwohl er auch das Handwerk des Krieges blendend versteht. Dem Kaiserhaus steht er nicht besonders nahe, ist er doch Han-Chinese und kein Mandschu.
Beide Charaktere, Lord Elgin und Zeng Guofan, sind kräftig und eindrücklich gezeichnet, ihre Widersprüchlichkeiten und innere Zerrissenheit zwischen offener Ablehnung und heimlicher Bewunderung für die jeweils andere Kultur tragen das Spannungsgerüst des Romans über weite Strecken. Leider trifft das auf die erfundene Hauptfigur, den deutschen Ex-Revolutionär und Missionar Neukamp, nicht zu. Er bleibt eher blass und seine Motivationen ein wenig unklar. Neukamps Schicksal berührt nicht, weder die allmählichen Verstrickungen in den religiösen Konflikt, noch die für seine Biographie so wichtige Liebe zur ebenfalls aus Deutschland stammenden Missionarin Elisabeth, die tragisch endet.
Beitrag zum Verständnis des gegenwärtigen Chinas
Stark ist der Roman vor allem, weil er sein Szenario einerseits durchaus als Folie für die Gegenwart verstanden wissen will, andererseits aber die schiere Lust am Erzählen nie verleugnet. Natürlich ist die Aktualität der großen Themen unübersehbar. Der Kampf der fundamentalistischen Taiping-Bewegung, dem etwa 30 Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten, erinnert nicht zufällig an die Bürgerkriege in Nahost, an den ‚Islamischen Staat‘ und seine blutige Pervertierung der Religion.
Und natürlich will der Roman auch einen Beitrag zum Verständnis Chinas in der Gegenwart leisten. Die Entwicklungen seit dem 20. Jahrhundert – Maos Machtergreifung und die Kulturrevolution, der stetige Aufstieg zur Wirtschafts- und Weltmacht seit den 70er Jahren – werden begreifbar, wenn man sieht, wie tief am Boden das Reich um 1860 lag, fast erstickt an überkommenen Riten und Traditionen, zerrieben zwischen religiösem Fanatismus und äußerem Druck. Der unbedingte Wille zur Modernisierung, aber auch zur Unabhängigkeit von äußeren Machteinflüssen des postkolonialen Chinas werden nachvollziehbar.
Man spürt auf jeder Seite die Leidenschaft, die der studierte Sinologe Thome für seinen Gegenstand empfindet, das Interesse, das er Land, Menschen und Geschichte entgegenbringt. Wie viel Recherchearbeit in diesen Text eingegangen sein muss, kann man nur ahnen. Nirgends aber vertrocknet der Roman zur drögen Geschichtsstunde. Hier wird lebendig und opulent erzählt, farbenprächtig und mit viel Sinn für Details.
Innovationen des historischen Romans werden ignoriert
Dennoch muss ich etwas Wasser in den Wein gießen. Letztlich hat mich dieser Roman trotz all seiner Vorzüge doch etwas enttäuscht. Denn dem Konzept des historischen Romans fügt Thome nicht nur nichts hinzu, er ignoriert auch alle Innovationen, die diese Gattung in den letzten dreißig bis vierzig Jahren erfahren hat. Im Grunde wird hier fröhlich und unverdrossen der Realismus des 19. Jahrhunderts gepflegt.
Von einem modernen historischen Roman unserer Zeit erwarte ich jedoch ein Bewusstsein dafür, dass historisches Erzählen permanent durch das Prisma der Gegenwart gebrochen wird. Die Geschichte entzieht sich nämlich dem Historiographen, weil er nur durch ein Fenster in eine entfernte Vergangenheit blicken kann, während sein Standort unverrückbar im Hier und Jetzt bleibt.
Postmoderne Autoren wie Calvino und Pynchon, Eco und Pamuk, Ransmayr und Kehlmann haben mit ironischen wie irritierenden Erzählverfahren gezeigt, dass man Historisches erzählen kann ohne außer Acht zu lassen, dass die Distanz zwischen Geschichte und Gegenwart immer bestehen bleibt, ja dass die einzige uns zugängliche Realität am Ende nur die Jetztzeit ist.
Trotz aller Einwände ein hochspannender Roman
Thome meint dieses Problem zu umschiffen, indem er die Perspektive lediglich aufsplittet und das Geschehen aus mehreren Blickpunkten beleuchtet. Zu geschmeidig und widerstandslos aber fügen sich diese Einzelstimmen unter der ordnenden Hand des Chronisten dann doch zu einem Ganzen. Das ist weder besonders originell, noch lässt sich dadurch verbergen, dass der Roman eine historische Wahrheit antizipiert, die es so nicht gibt.
Soll man wegen dieser Einwände auf die Lektüre von Gott der Barbaren verzichten? Auf keinen Fall! Hier liegt vielleicht kein literarisches Meisterwerk vor, aber immer noch ein hochspannender, wirklich gut gebauter und süffig erzählter Roman. Außerdem – und das ist keine Kleinigkeit – gibt dieses Buch der Hoffnung Nahrung, dass sich die deutsche Gegenwartsliteratur mehr und mehr aus dem Mustopf endloser Selbstbespiegelung befreit und der Welt öffnet. Es wird auch Zeit.
Stephan Thome: „Gott der Barbaren“. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 719 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-518-42825-2.