Zwischen Afrika und Europa

© Suhrkamp Verlag

Drei ergreifende Geschichten von Migration, Weiblichkeit und der unzerstörbaren Würde des Menschen: Marie NDiayes Drei starke Frauen ist einer der besten und wichtigsten Romane unserer Zeit.

Frankreich, du hast es besser! Kaum ein anderes Land der Welt kann zur Zeit mit einer derart aufregenden Literaturszene aufwarten wie unsere Nachbarn. Sind es vielleicht doch gesellschaftliche und ökonomische Krisen, die die Literatur aufblühen lassen? Man denkt unwillkürlich an den literarischen Reichtum der Weimarer Republik und spürt ein leises Frösteln.

Jedenfalls findet die neue Glanzzeit der französischen Gegenwartsliteratur – die mit Namen wie Emmanuel Carrère, Mathias Énard, Jerôme Ferrari, Maylis de Kerangal, Yasmina Reza, Delphine de Vigan und anderen verknüpft ist – hierzulande wesentlich mehr Resonanz als deutsche Literatur in Frankreich. Michel Houellebecq etwa wusste kürzlich in einem SPIEGEL-Interview auf die Frage nach seinen deutschsprachigen Lieblingsautoren der Gegenwart nur Thomas Bernhard und Peter Handke zu nennen. Zwei Österreicher, der eine seit dreißig Jahren tot, der andere mit Mitte Siebzig im Spätherbst seiner Laufbahn. Nun ja.

Debüt als literarisches Wunderkind

Wenn ich die Krone für die mit Abstand grandioseste Stimme der französischen Literatur unserer Zeit verleihen müsste, so würde ich sie ohne zu zögern Marie NDiaye (*1967) überreichen. Die Tochter einer französischen Mutter und eines aus dem Senegal stammenden Vaters debütierte als literarisches Wunderkind: Sie war gerade einmal siebzehn Jahre alt, als einer der renommiertesten Verlage Frankreichs, die Éditions du Minuit, ihren ersten Roman Quant au riche avenir (auf Deutsch bislang nicht erschienen) herausbrachte. Es folgten zahlreiche weitere Romane, dazu Erzählungen, Theaterstücke und ein Drehbuch. Wegen der Politik Nicolas Sarkozys kehrte sie Frankreich zwischenzeitlich den Rücken und zog nach Berlin.

Marie NDiayes bislang bedeutendster Roman ist sicher Trois femmes puissantes (dt. Drei starke Frauen), der 2009 erschienen ist und – als erstes Buch einer schwarzen Autorin überhaupt – mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Drei weitgehend selbständige, nur locker miteinander verknüpfte Geschichten erzählen vom Schicksal dreier Frauen zwischen Afrika und Europa: Migration ist auch in der Literatur das beherrschende Thema dieser Zeit.

Grenzgängerinnen am Abgrund ihrer Existenz

Da ist zunächst Norah, die wie die Autorin Tochter eines Senegalesen ist, der seine Ehefrau und die Töchter in Frankreich früh verlassen hat und mit seinem Sohn Sony zurück nach Afrika gekehrt ist. Als erwachsene Frau besucht ihn Norah, denn Sony sitzt mittlerweile im Gefängnis. Er soll seine gleichaltrige Stiefmutter, mit der er ein Verhältnis hatte, ermordet haben. Der Vater, einst grausamer und egozentrischer Patriarch, ist mittlerweile gealtert und hat an Kraft eingebüßt. Für Norah verfügt er aber immer noch über eine fast mythische, bedrohliche Präsenz. Sony indessen streitet seine Schuld ab und bezichtigt den Vater des Mordes.

Die zweite, längste Episode spielt in der Gironde und folgt Rudy, einem ehemaligen Lehrer Anfang Vierzig, der lange im Senegal gelebt hat. Dort hat er an der internationalen Schule in Dakar seine jetzige Frau Fanta kennengelernt. Nach einem Zwischenfall ist es ihm gelungen , Fanta zu einer Rückkehr in seine Heimat, ins ländliche Frankreich zu überreden. Doch seine Versprechen blieben unerfüllt: Rudy konnte hier keine angemessene Anstellung finden und arbeitet nun weit unter seinen Möglichkeiten in einem Küchenstudio. Fanta indes hat noch mehr Unglück, sie kann in Frankreich nicht als Lehrerin arbeiten, fühlt sich vollkommen fremd und leidet unter den Demütigungen ihres aufbrausenden, dominanten Ehemannes. Ihre Geschichte erfährt man nur aus Rudys Perspektive, aber es wird rasch deutlich, dass seine Sicht der Dinge nur die halbe Wahrheit ist.

Im dritten Abschnitt begegnen wir Fantas Cousine, Khady Demba, die im Senegal unter furchtbaren Bedingungen lebt: Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes verliert sie alles und muss zu seiner Familie ziehen. Dort jedoch erfährt sie nichts als Ablehnung und Ausgrenzung. Bald wird ihr nahegelegt, nach Frankreich zu emigrieren, wo Fanta ein vermeintlich glückliches und wohlhabendes Leben führt. Sie begibt sich auf die gefahrvolle Flucht, lernt unterwegs einen jungen Mann kennen, der ihr hilft und ihr Vertrauen gewinnen kann. Dann aber wird sie auf grausame Weise hintergangen.

Die Frauen, von denen Marie NDiaye erzählt, sind Grenzgängerinnen, die auf den ersten Blick alles andere als stark erscheinen. Hin- und hergerissen zwischen Afrika und Europa taumeln sie am Abgrund ihrer Existenz. Neben der zentralen Migrationserfahrung sind auch Geschlechterbeziehungen ein zentrales Thema des Romans. Die Männerfiguren sind dabei allesamt Schwächlinge, mehr oder minder bemitleidenswert, die ihre Töchter, Freundinnen, Ehefrauen und Geliebten unterdrücken, betrügen und ausnutzen.

Doch die Männer sind nicht eindimensional gezeichnet. Besonders Rudy, dessen Blickpunkt die zweite Episode trägt, ist eine Figur, die in ihrer Verzweiflung und mühsam unterdrückten Aggressivität an Dostojewskis Antihelden erinnert. Wie eine tragische Kette von rassistisch grundierten Konflikten, die mit einer Tat seines Vaters begann, Rudys Leben zerstört, zeigt der Text mit absoluter Konsequenz. Der erzählerische Kunstgriff besteht darin, durch diesen rein männlichen, weißen Blickwinkel das Elend der Ehefrau Fanta gleichsam subversiv durchscheinen zu lassen.

Auf den zweiten Blick erscheinen Norah, Fanta und Khady Demba dann doch stark. Allerdings nicht, weil sie sich aktiv gegen Repressionen und Marginalisierung zur Wehr setzen, sondern weil sie sich durch das Bewahren ihrer eigenen Würde, ihrer Menschlichkeit und der Fähigkeit, trotz allem Liebe zu empfinden, selbst retten.

Die Sprache erhebt den Roman zum Kunstwerk

Auch wenn der Text die großen gesellschaftlichen Konfliktlinien und Spannungen unserer Zeit aufgreift, handelt es sich nicht um ein als Roman getarntes Sachbuch. Drei starke Frauen ist keine aufklärerische Streitschrift und kein politisches Manifest. Dieser Text will nicht erklären, nicht zur Aktion aufrufen, sondern darstellen. Denn die politische Dimension der Literatur besteht in erster Linie im Sichtbarmachen dessen, was dem gewöhnlichen Blick entgeht oder von ihm ausgeblendet wird.

Es ist also die Form, die Sprache, die den Text zum Kunstwerk erhebt. Gewiss: Die langen, artifiziellen Satzperioden, die auf wundersame Weise fast klassizistisch streng anmuten und gleichzeitig farbig schillern, machen die Lektüre zu keinem Spaziergang. Aber wie genau sind die Beobachtungen, wie lebendig die Charaktere, wie sorgfältig wird noch das kleinste Detail ausgeleuchtet! Wer sich darauf einlässt, den ergreift dieses Buch bis in alle Fasern.

Vergleich mit den größten Autoren des 20. Jahrhunderts

Von der Kritik ist NDiayes ambitionierter Stil mit den größten Autoren des 20. Jahrhunderts verglichen worden, mit Proust, Kafka, William Faulkner und dem nouveau roman. Wie so oft ist solches Namedropping eher verschleiernd als hilfreich – Marie NDiayes schreibt absolut originär -, es deutet aber ungefähr das Niveau dieser Literatur an.

Dabei ist natürlich auch dieses Buch gewiss nicht makellos – man mag die gelegentliche Brechung der Realität durch magische Elemente (Vögel!) etwas aufdringlich finden –, aber insgesamt verdient dieser Roman höchstes Lob. Verglichen mit NDiaye wirken die Texte von Autorinnen wie Chimamanda Ngozi Adichie (Americanah) oder Taiye Selasi (Diese Dinge geschehen nicht einfach so) eher unterkomplex und reißbretthaft.

Auch in Deutschland, dessen Gegenwartsliteratur seit geraumer Zeit mehr und mehr einem bequemen Kurzsatz-Dogma verfällt, gibt es keine vergleichbare literarische Stimme. Das ist zwar schade, aber nicht allzu tragisch. Schließlich ist Literatur von jeher eine globale, internationale Angelegenheit, die alle Grenzen überwindet. Außerdem hat NDiaye in Claudia Kalscheuer eine so hervorragende Übersetzerin, dass man in der deutschsprachigen Fassung kaum Abstriche machen muss.

So wage ich die Behauptung, auch wenn es auch äußerst schwer ist, die Langlebigkeit literarischer Werke vorherzusagen, dass Drei starke Frauen auf dem besten Wege ist, ein Klassiker zu werden, der lange Bestand haben und in Erinnerung bleiben wird.

Marie NDiaye: „Drei starke Frauen“. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 342 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-518-46258-4.

4 Gedanken zu „Zwischen Afrika und Europa“

  1. Lieber Julian,
    Eine sehr interessante und ausführliche Rezension, die ich sehr gern gelesen habe. Das Buch und die Autorin werde ich mir auf jeden Fall merken. Der Inhalt spricht mich sehr an und das Thema ist aktuell und wichtig. Auch wenn ich einige Aspekte etwas abschrecken (die magischen Elemente) oder einschüchtern (die anscheinend eher schwierige Sprache), werde ich dem Buch wohl doch mal eine Chance geben, denn der Inhalt klingt sehr interessant.
    Danke für diese schöne Buchbesprechung.
    Liebe Grüße, Julia

    1. Hallo Julia,
      die magischen Elemente sollten nicht abschrecken, sie sind doch recht dezent, auch wenn sie sich nicht ganz homogen in den Roman einfügen. Die Sprache – ja, ganz leicht liest es sich nicht. Wobei es mir so ging, als ich einmal in den Text gefunden hatte, geriet ich regelrecht in einen Sog und wollte und konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Aber ich mag sowas, ich liebe lange, perfekt konstruierte Sätze (z.B. auch bei Kleist, Proust oder Thomas Mann). Wie alles im Leben: Geschmackssache.
      Liebe Grüße,
      Julian

  2. Vielen Dank für diese Rezension! Mir ist Marie NDiaye bereits ein Begriff, da ich auf ihr Buch „Die Chefin“ aufmerksam geworden bin als Frankreich Gastland der Buchmesse war. Gelesen habe ich es allerdings nicht. „Drei starke Frauen“ scheint aber eher ein Buch für mich zu sein und deshalb landet es direkt auf meiner Wunschliste. Danke, dass du durch deine umfangreiche Rezension darauf aufmerksam gemacht hast.

    Viele Grüße, Ramona (#litnetzwerk)

    1. Hallo Ramona,
      wenn du sprachlich ausgefeilte Prosa magst und dich lange Sätze nicht abschrecken, wirst du viel Freude mit diesem Buch haben. Ich fand es großartig, gerade weil es sich vom „Mainstream“ so wohltuend abhebt.
      Liebe Grüße,
      Julian

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