Science-Fiction als Kritik am Kolonialismus: In seinem legendären Roman Der Krieg der Welten verspottet H. G. Wells Rassismus und Größenwahnsinn des viktorianischen Zeitalters.
„Die Weltgeschichte kennt nichts Großartigeres als das Britische Empire“, verkündete einst der stolze Lord Curzon, indischer Vizekönig von 1898 bis 1905. Heute klingt das angesichts der nicht enden wollenden Plagen und Pannen des wieder um ’splendid isolation‘ bemühten United Kingdom nur noch nach eitler Selbstüberschätzung.
Um 1900 aber konnten die Worte Curzons durchaus als korrekte Zustandsbeschreibung eines Weltreichs gelten, das sich über ein Viertel des gesamten Erdballs erstreckte und 400 Millionen Untertanen zählte – obwohl seine größte Ausdehnung zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal erreicht war.
Beherrscher werden zu Beherrschten
Dass ausgerechnet 1898, im Jahr des Amtsantritts von Lord Curzon in Großbritannien ein Roman erschien, der das Selbstverständnis der Briten auf beispiellos provozierende Weise infrage stellte, ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Denn am Ende des Viktorianischen Zeitalters hatte sich in der fortschrittlichen Industriegesellschaft längst ein kulturelles Unbehagen eingenistet. Nagende Skepsis zweifelte an einer Moderne, die zwar immer neue zivilisatorische Errungenschaften produzierte, aber auf einem System grausamer Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker basierte.
In H. G. Wells‘ Roman Der Krieg der Welten werden die Verhältnisse umgekehrt: Das Empire selbst wird zum hilflosen Objekt einer technologisch weit überlegenen Kolonialmacht, aus den unumschränkten Herrschern werden Beherrschte. Der Autor dieser Phantasie war kein Unbekannter. Mit seinem Romanerstling Die Zeitmaschine konnte er 1895 einen großen Erfolg feiern, seine zahlreichen Essays zu Fragen der Zeitgeschichte und Philosophie wurden viel gelesen und beachtet.
Im Reportagestil schildert ein namenloser Ich-Erzähler, der mit seinem Autor zahlreiche biographische Details teilt, die Invasion feindlicher Außerirdischer vom Mars. Merkwürdige zylindrische Raumkapseln landen eines Nachts in der englischen Grafschaft Surrey. Darin befinden sich abstoßende, nur aus Kopf und krakenähnlichen Fangarmen bestehende Kreaturen mitsamt ihrem Kriegsgerät. Die Angreifer sind der stolzen Weltmacht an Intelligenz und technologischen Fähigkeiten weit überlegen. Im Angesicht der drohenden Unbewohnbarkeit ihres eigenen Planeten suchen sie die totale Unterwerfung der Erde und ihrer Ressourcen. Bald stapfen haushohe dreibeinige Kampfmaschinen durch die vormals friedliche Hecken- und Hügellandschaft und versengen mit tödlichem Hitzestrahl Menschen, Vieh, Dörfer und Städte. Der militärische Widerstand ist rasch gebrochen, die gesellschaftliche Ordnung erleidet den totalen Zusammenbruch. Riesige Flüchtlingsströme ziehen durchs Land, und selbst London, die größte Stadt der Welt, wird angegriffen und von ihren Bewohnern verlassen.
Durch dieses aufgelöste Land irrt der Erzähler, hin- und hergerissen zwischen abgrundtiefer Verzweiflung und der nie erlöschenden Hoffnung, seine Frau, von der ihn die Katastrophe getrennt hat, am Ende doch noch wohlbehalten wiederzufinden. Unterwegs trifft er auf andere Überlebende, die höchst unterschiedlich auf das unvorstellbare Grauen reagieren. Am eindrucksvollsten ist die Begegnung mit einem Pfarrer, mit dem sich der Erzähler einige Tage auf einem halb zerstörten Bauernhof versteckt. Nach und nach verfällt dieser Mann dem Wahnsinn, denn die Ereignisse sind mit seinem christlichen Weltbild nicht vereinbar: Im Himmel wohnen keine Engel und kein gütiger Vater, sondern kalte Kreaturen von berechnender Grausamkeit. Schließlich muss der Erzähler den Priester opfern, um seine eigene Haut zu retten.
Niedrigste Kreaturen retten das Empire
Wells‘ Roman illustriert die endgültige Ablösung einer Weltanschauung, die den Menschen als Ebenbild Gottes, als letzte und wertvollste Schöpfung betrachtet, durch die Evolutionstheorie. Das Leben ist nichts als ein grausamer, unaufhörlicher Existenzkampf und warum, so fragt der begeisterte Darwin-Leser Wells, sollte dieser ausgerechnet vor dem Menschen haltmachen? Wenn es überlegene Spezies im Universum gäbe, was sollte sie hindern, uns ebenso auszurotten wie wir zahllose Tierarten, ja sogar vermeintlich ‚minderwertige‘ Völker ausgerottet haben?
Am Ende, und das ist der geniale erzählerische Clou des Romans, sind es dann aber doch die Mechanismen der Evolution, die die Menschheit retten. Denn den Sieg über die Marsianer tragen weder Soldaten noch Partisanen davon, sondern Mikroben und Keime: Da die Marsianer im Laufe der Zeit sämtliche Krankheiten auf ihrem Planeten ausgerottet haben, besitzen sie keinerlei Abwehrkräfte gegen irdische Erreger und verenden schlussendlich. Der Mensch jedoch hat sich in dem erbarmungslosen Prozess der natürlichen Anpassung unter qualvollen Opfern seine schützende Immunität erkauft. Nebenbei ist es natürlich ein weiterer satirischer Schlag des Autors gegen die Hybris des britischen Empires, dass es seine Rettung ausgerechnet den niedrigsten Kreaturen überhaupt verdankt.
Dass der Roman trotz seines philosophisch-naturwissenschaftlichen Gehalts niemals ins Traktathafte abgleitet und auch heute noch so wunderbar lesbar ist wie vor 120 Jahren, verdankt er vor allem seinem perfekt komponierten Aufbau und einfachen, kraftvollen Bildern. Besonders bemerkenswert sind die geradezu prophetisch anmutenden Beschreibungen der maschinisierten Kriegsführung der Marsianer, die alle Schrecken des Ersten Weltkrieges vorwegnehmen. Auch der schwarze Rauch, mit dem die Außerirdischen die Menschen hinterhältig und lautlos ersticken, erinnert an die Giftgaswolken, die gut anderthalb Jahrzehnte später über die Schlachtfelder Europas ziehen sollten.
Zahlreiche Adaptionen vom Hörspiel bis zum Blockbuster
Der Erfolg des Romans ist immens, in angelsächsischen Welt ist er bis heute nie vergriffen gewesen. Zu den Bewunderern von H. G. Wells zählten solch belesene und anspruchsvolle Schriftstellerkollegen wie Jorge Luis Borges und sogar der strenge Vladimir Nabokov (der ihn Joseph Conrad entschieden vorzog). Dass der Stoff immer wieder aufs Neue verstört und fasziniert, lässt sich an zahlreichen Adaptionen ablesen. Vor allem in Zeiten schwerer Krisen und großer Verunsicherungen greift man auf ihn zurück: 1938, wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der US-Wirtschaft im Zuge der Great Depression versetzte Orson Welles mit einem berühmt-berüchtigten Hörspiel seine Landsleute in Angst und Schrecken. Der dokumentarische Charakter der Inszenierung machte zahlreiche Hörer glauben, eine tatsächliche Alien-Invasion finde statt. Noch am Abend der Sendung waren die Highways im Großraum New York von Flüchtenden verstopft, sogar Selbstmorde aus Angst vor den Marsianern wurden berichtet.
Hollywood wagte sich dann 1953, während in Korea der erste Stellvertreterkrieg zwischen West und Ost tobte, an eine erste, auch heute noch sehenswerte Verfilmung. Gut ein halbes Jahrhundert später, 2005, nahm sich Steven Spielberg mit dem leider nicht überzeugenden Tom Cruise in der Hauptrolle erneut des Stoffes an. Drehbuch und Bildsprache dieses Films sind deutlich vom Trauma 9/11 und den zwei Kriegen in Nahost geprägt. Und natürlich lebt Wells‘ Idee in nahezu allen Alien-Invasions-Filmen von Philip Kaufmans Die Körperfresser kommen bis Roland Emmerichs Independence Day fort.
So gut wie das Original ist aber keine Adaption, und der deutschsprachige Lesende kann sich glücklich schätzen, den Roman bei dtv endlich in einer neuen, tadellosen Übersetzung von Lutz-W. Wolff vorgelegt zu bekommen. Hilfreiche Anmerkungen intensivieren noch das Lesevergnügen. Der Wiederentdeckung dieses Klassikers der Science-Fiction steht also nichts mehr im Wege!
H. G. Wells: „Der Krieg der Welten“. Roman. Neu übersetzt, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W. Wolff. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2017. 328 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-423-14547-3.
Ich habe die Rezension aus Spoilerängsten nur zur Hälfte gelesen. Zack, dsa Buch ist auf der Wanna-Read-Liste. Danke dir 🙂
Ich habe das Buch dieses Jahr gelesen und war ebenfalls sehr angetan. Hätte ich echt nicht gedacht, immerhin hat es schon ein paar Jahre auf dem Buckel 😀
Was ich übrigens schade finde, auch wenn diese Story hier bekannt ist, dass du das Ende verräts. Diesen Clou hätte ich für mich behalten. So was sollte der Leser selbst entdecken :/
Ja, ich habe lange überlegt, ob ich das Ende verraten soll… Persönlich habe ich ja überhaupt kein Problem mit Spoilern, ich denke, dass eine Geschichte auch dann fesseln muss, wenn man das Ende kennt. Sieht natürlich nicht jeder so. Was dann den Ausschlag gegeben hat, war die Überlegung, dass das Buch ein sehr bekannter Klassiker ist. Und ich hätte meine Kernthese, dass hier eine Kolonialmacht selbst kolonisiert wird und dann durch die niedrigste Lebensform gerettet wird, nicht anbringen können, wenn ich das Ende nicht verraten hätte.