Die besten Thriller schreibt das Leben: Emmanuel Carrère erkundet in seinem Reportageroman Der Widersacher die dunklen Abgründe der französischen Mittelschicht.
Ein Geständnis: Mit dem aktuellen Trend des radikal autobiographischen Erzählens kann ich nicht allzu viel anfangen. Karl Ove Knausgårds mikroskopische Selbstbetrachtung nervt mich ebenso wie all die detailreichen Krankenberichte der deutschen Gegenwartsliteratur. Aus meiner Sicht kann literarisches Erzählen ohne irgendeine Form von Fiktionalität nicht auskommen. Als Schriftsteller zu behaupten, man schreibe die reine, unverfälschte Wahrheit, man habe nichts erfunden, ist Augenwischerei.
Dabei geht es nicht darum, dass man nicht über reale Ereignisse schreiben soll. Aber ein Bewusstsein, wie Sprache Wirklichkeit verändert, müsste im 21. Jahrhundert doch eigentlich selbstverständlich sein. In dem Moment, in dem man einen literarischen Text verfasst – einen Aufbau konstruiert, einen Spannungsbogen erzeugt, nach treffenden Ausdrücken sucht, wegstreicht und hinzufügt -, hat man schon mit der Wahrheit gebrochen. Texte geben die Wirklichkeit niemals exakt wieder, weil Sprache nun einmal ungenau und mehrdeutig ist. Umgekehrt erschafft Literatur, auch wenn sie Fiktives erzählt, ihre ganz eigene Wahrheit und Realität. Sind für uns Leser nicht Madame Bovary oder Anna Karenina, Hans Castorp oder Raskolnikow lebendiger als so manche Person unseres Alltags, von der wir oft nur Oberflächliches und Belangloses wissen?
Autofiktion spielt mit Wirklichkeit und Erfindung
Heute sind diese simplen Einsichten offenbar verschüttgegangen, denn Kritiker preisen die neue Mode begeistert und laut wie eine Offenbarung: ‚So muss man heute erzählen! Nieder mit dem Erfundenen, her mit den wahren Geschichten!‘
Friedrich Nietzsche war da schon schlauer: „Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen“. Oder anders: „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“. In Zeiten skrupelloser Verbreitung von Fake News ist das natürlich eine bittere Pille, die uns Nietzsche da zu schlucken gibt.
Interessanter als vermeintlich authentische, schonungslose Lebensbeichten finde ich die sogenannte Autofiktion, also Texte, die mit den trügerisch schillernden Begriffen Wirklichkeit und Erfindung spielen: Kann man zwischen Tatsächlichem und Fiktivem wirklich so scharf trennen, wie wir gerne meinen?
Ein Meister dieser Gattung ist der Franzose Emmanuel Carrère. Seine Texte handeln oft von realen Begebenheiten, aber weil er sie so literarisch erzählt wie Romane, wird das komplexe Verhältnis von Wahrheit und Fiktion immer mitverhandelt. Carrères Tatsachenroman Der Widersacher (franz. L’Adversaire) aus dem Jahr 1999, der schon einmal auf Deutsch erschienen ist und nun in der hervorragenden Neuübersetzung von Claudia Hamm wieder zugänglich wird, gibt ein glänzendes Beispiel seines Talents.
Eine fast unglaubliche Geschichte
Erzählt wird die (wahre) Geschichte des Hochstaplers und Mörders Jean-Claude Romand, der sein ganzes Umfeld inklusive der engsten Familie glauben macht, studierter Arzt zu sein und in hoher Stellung bei der WHO in Genf zu arbeiten. Jeden Morgen fährt er scheinbar ins Büro, an Wochenenden nimmt er oft, so behauptet er, an Konferenzen oder Tagungen in aller Welt teil. In Wahrheit hat Romand sein Studium frühzeitig abgebrochen, geht keinem Beruf nach und verfügt über keinerlei Einkommen. Die Tage verbringt er im Auto auf einsamen Parkplätzen oder mit Spaziergängen in den Wäldern des Jura. Seine gesamte Existenz basiert auf Lügen.
Romand lebt davon, Familienmitglieder und gute Freunde zu betrügen, die ihm leichtgläubig und gierig ihr Geld anvertrauen, das er in der Schweiz mit phantastischer Rendite anzulegen verspricht. Als seine Enttarnung nach fast zwei Jahrzehnten unausweichlich wird, tötet er seine Angehörigen: seine Frau Florence, die beiden Kinder und seine alten, gebrechlichen Eltern. Dann unternimmt er einen halbherzigen Selbstmordversuch, wird gerettet und muss sich schließlich vor Gericht in einem langen, für alle Beteiligten quälenden Verfahren seiner Schuld, seinen Lügen und Verbrechen stellen.
Man mag kaum glauben, dass sich das ganze Umfeld des Betrügers jahrzehntelang blenden ließ, dass die doch immer wackelige Fassade seiner Hochstapler-Existenz so lange nicht eingestürzt ist. Wäre diese Geschichte erfunden, so würde man ihr absurde Unwahrscheinlichkeit attestieren.
Nie wird die eigene Perspektive geleugnet
Carrère hat Romands Gerichtsverhandlung besucht und auch Zugang zum Prozessmaterial erhalten. Er stand mit diversen Beteiligten, vor allem aber mit Romand selbst in direktem Kontakt; einige Briefwechsel mit dem Mörder finden sich im Text.
Obwohl das Buch das schier unfassbare Leben Romands so präzise wie möglich rekonstruiert, handelt es sich um keine nüchterne Reportage. Vielmehr liest sich der Text so fesselnd wie ein Thriller. Doch auch wenn Carrère schon mit dem allerersten Satz seine eigene Teilhabe an dieser Geschichte erkennen lässt, hält er zu seinem Protagonisten stets die notwendige Distanz.
„Während Jean-Claude Romand am Samstagmorgen, den 9. Januar 1993, seine Frau und seine Kinder tötete, saß ich mit meinen in der Versammlung der Schule unseres älteren Sohnes. Gabriel war fünf Jahre alt, genauso alt wie Antoine Romand. Danach gingen wir zu meinen Eltern mittagessen und Romand ging zu seinen und brachte sie nach dem Essen um.“
Carrère geht es nicht darum, in der Manier des allwissenden und allmächtigen Erzählers die Gedanken und Gefühle eines Mörders zu erklären. Nie leugnet er seine eigene Perspektive auf das Geschehen, seine Beteiligung und Anteilnahme, die über eine reine Beobachterrolle hinausgeht.
Im sehr lesenswerten Gespräch des Autors mit seiner Übersetzerin, das sich im Anhang des Buches findet, bringt Carrère seine Erzählhaltung auf den Punkt, wenn er sie als „Lektürevertrag“ mit dem Leser bezeichnet:
„Ich kann dir nicht versprechen, dass das, was ich dir erzähle die Wahrheit ist, aber ich kann dir versprechen, dass es die Wahrheit dessen ist, was ich verstanden und empfunden habe.“
Ein düsteres Bild der französischen Mittelschicht
Carrère operiert in seinem Text durchaus mit belletristischem Besteck und schlägt damit geschickt den Bogen zwischen Tatsache und Literatur. Literarisch ist etwa der dezente, aber durchgehende religiöse Unterton. So wird recht ausführlich die christliche Bekehrung des Mörders Romand im Gefängnis thematisiert, die vielleicht nur als Selbstschutz vor dem Eingeständnis eines grotesk missratenen Lebens dient. Auch bei der moralischen Einordnung des Geschehens greift der Erzähler häufig auf religiöse Motive zurück; schon der Titel verweist auf die biblische Bezeichnung des Satans als „Widersacher Christi“.
Und nicht zuletzt porträtiert der Text wie alle guten Romane auch die zeitgenössische Gesellschaft. Scheinbar beiläufig gelingt es Carrère, ein faszinierend düsteres Bild der französischen Mittelschicht zu zeichnen, mit ihrer Gier nach Aufstieg, Erfolg, sozialer Akzeptanz und gelingendem Leben – und den unbeherrschbaren Dämonen, die im Hintergrund lauern.
Emmanuel Carrère: „Der Widersacher“. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018. 195 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-95757-612-5.