Das Gemurmel der Toten

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Am Ursprung des Magischen Realismus: Juan Rulfos kleiner Roman Pedro Páramo ist eines der einflussreichsten Bücher Lateinamerikas und ein Klassiker der Weltliteratur.

Die Blütezeit des sogenannten ‚Magischen Realismus‘ ist mittlerweile vorbei, wie generell die ganz großen Werke der lateinamerikanischen Literatur eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart zu finden sind. Spätestens mit dem viel zu frühen Tod des Exil-Chilenen Roberto Bolaño im Jahr 2003 und der posthumen Veröffentlichung seines grandiosen Romans 2666 (2004, dt. 2009) scheint eine Ära vorläufig an ihr Ende gekommen zu sein.

Wie aus dem Nichts hatte sich die Belletristik des amerikanischen Subkontinents in der Mitte des letzten Jahrhunderts an die Spitze der Weltliteratur katapultiert. Autoren wie Pablo Neruda, Juan Carlos Onetti, Carlos Fuentes, Octavio Paz, Julio Cortázar, Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa wurden quasi über Nacht zu Stars und Vorbildern des globalen Literaturbetriebs; der sogenannte „Latin Boom“ schwappte rasch in die Vereinigten Staaten und von dort über den Atlantik nach Europa. Besonders die Mischung eines bildgewaltigen Realismus mit phantastischen und mythischen Elementen verschaffte den südamerikanischen Autoren ein gigantisches, begeistertes Publikum.

Borges als Übervater des Magischen Realismus?

Am Anfang dieser glorreichen Epoche, die mit Gabriel García Márquez‘ sensationell erfolgreichem Roman Hundert Jahre Einsamkeit (1967) – bis heute haben sich über 30 Millionen Exemplare verkauft – einen fulminanten Höhepunkt erreichte, steht nach geläufiger Ansicht das Werk des Argentiniers Jorge Luis Borges (1899-1986).

Borges, der mit der in Argentinien dominierenden literarischen Tradition des staubigen Gaucho-Romans wenig anfangen konnte, war in einem wohlhabenden, hochgebildeten Elternhaus mit der ganzen Fülle europäischer Literatur und Philosophie aufgewachsen. Dank seines Erbes finanziell unabhängig und aufgrund seines Berufes als Bibliothekar nahezu beispiellos belesen, konnte er als Autor bislang unentdeckte Pfade betreten. Seit Cervantes hat wohl kein Schriftsteller der spanischsprachigen Literatur derart belebende Impulse verliehen. Seine kurzen, essayhaften Erzählungen verschmelzen philosophische Überlegungen (oft zu Problemen von Raum und Zeit), intertextuelle Anspielungen und phantastisches Erzählen in einzigartiger Form.

Oft aber wird übersehen, dass der tatsächliche Einfluss Borges‘ auf die ihm unmittelbar nachfolgende Generation eher gering war. Mögen auch Cortázar und später Bolaño wesentliche Anregungen für ihr eigenes Schreiben vom Übervater erhalten haben – Fuentes, García Márquez und Vargas Llosa haben mit Borges eigentlich so gut wie nichts gemein.

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Ein Roman voll überbordender Phantasie

Ihrem Vorbild begegnet man eher in dem einzigen, bei uns leider viel zu wenig beachteten Roman des Mexikaners Juan Rulfo (1917-1986) aus dem Jahr 1955, der seinerseits von Borges hochgeschätzt wurde. Pedro Páramo ist ein Roman von gut 160 Seiten – ein schmales Werk auf den ersten Blick. Und doch steckt der Text voller Wunder, voll erzählerischer Finten und überbordender Phantasie.

Zwei Erzählstränge werden kunstvoll ineinander verschlungen: Da ist zunächst der Ich-Erzähler Juan Preciado, dem seine Mutter kurz vor ihrem Tod aufgetragen hat, in ihrem Heimtdorf Comala nach seinem Vater Pedro Páramo zu suchen, der Frau und Kind einst verstoßen hatte. Doch dieser ist seit Jahren tot, sein Landgut Media Luna ebenso wir das Dorf verkommen, vergessen und weitgehend verlassen. Die wenigen Menschen, denen Juan in Comala begegnet, sind in Wahrheit ebenfalls längst verstorben. Statt friedlich in ihren Gräbern zu ruhen, drängen sie zurück in die Welt der Lebenden, um ihre Geschichten zu erzählen.

„Dieses Dorf ist voller Echos. Es ist, als seien sie in den Hohlräumen der Mauern oder unter den Steinen eingesperrt. Wenn du gehst, spürst du, dass sie dir auf den Hacken sind. Hörst es knirschen. Gelächter. Schon recht altes Gelächter, als wäre es müde vom Lachen. Und Stimmen, die vom vielen Gebrauch abgenutzt sind. All das hörst du.“

Dazu kommen als zweiter großer Erzählstrang die Rückblenden in das Leben von Juans Vater, des Großgrundbesitzers Pedro Páramo. Geschildert wird sein Aufstieg zum grausamen Herrscher über das Dorf; seine Macht, die er zur Verführung (und Schwängerung) zahlreicher Frauen missbraucht; seine Zuneigung zum unehelichen Sohn Miguel, der schließlich bei einem tragischen Unfall stirbt. Und nicht zuletzt sein einzig menschlicher Zug, die Liebe zu seiner einstigen Jugendliebe Susana San Juan, die mit ihrem Vater als Kind aus dem Dorf fortgezogen ist. Sie wiederzugewinnen ist sein einziger Lebenssinn.

Als es ihm schließlich zu gelingen scheint, muss er erkennen, dass all seine Bemühungen und Träume vergebens waren. Die erwachsene Susana lebt mittlerweile halb wahnsinnig in ihrer eigenen Welt, verschließt sich dem Leben und versinkt in Trauer um ihren ersten Ehemann Florencio. Mit dem unausweichlichen Schicksalsschlag erreicht der Haß Pedro Páramos auf Comala seinen grotesken Höhepunkt. Er schwört den Dorfbewohnern für ihre Gleichgültigkeit seinem Leid gegenüber grausame Rache und Vernichtung.

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Existentielle Wucht und subtile Zartheit

Die Figuren des Romans sind eher Archetypen als wirkliche Charaktere. Ihre Namen sind im Spanischen meist sprechend, Pedro Páramo etwa bedeutet ‚Steinwüste‘. Auch Comala steht für das südamerikanische Dorf schlechthin und diente García Márquez für sein Macondo in Hundert Jahre Einsamkeit als Vorbild. Wie Macondo existiert Comala auf eine gleichsam mythische Weise jenseits von Raum und Zeit und konzentriert wie in einem Brennspiegel das ganze Drama der lateinamerikanischen Geschichte und Kultur der letzten beiden Jahrhunderte: die Einsamkeit der weiten, kargen Landschaft, die Melancholie und skurille Frömmigkeit der bitterarmen Dorfbewohner, die rohe Gewalt und Herrschaftssucht der Großgrundbesitzer, in der sich die spätere Grausamkeit so vieler Diktaturen bereits ankündigt. All das wird vom Text mit existentieller Wucht und einer gleichzeitig ungeheuer subtilen Zartheit dargestellt, ohne Pathos und auch ohne die manchmal etwas opernhafte Opulenz eines García Márquez.

Auf keinen Fall sollte man sich von der ungewöhnlichen Erzählform des Romans abschrecken lassen. Spätestens seit Joyce steht experimentelles Erzählen im Ruf, anstrengend, verwirrend und zeitraubend zu sein – eine Sache für Spezialisten und Nerds. Doch nichts davon gilt für Pedro Páramo. Der Roman übt, dank seiner knappen, prägnanten, aber dennoch bilder- und farbenreichen Sprache einen unwiderstehlichen Sog aus. Man liest dieses funkelnde kleine Meisterwerk begeistert und wie im Rausch – um nach der letzten Seite noch einmal von vorn zu beginnen. Dann nämlich erst erschließen sich die vielen Bezüge wirklich und man steht bewundernd vor der atemberaubend perfekten Konstruktion des Textes.

Kaum Einfluss auf deutschsprachige Literatur

Vergleicht man dieses Feuerwerk unangestrengter Einbildungskraft und erzählerischer Raffinesse mit der deutschsprachigen Literatur jener Jahre, mit Böll, Walser, Lenz oder auch Max Frisch, meint man einen Text von einem anderen Planeten vor sich zu haben. Warum, so fragt man verwundert, ist diese Art Literatur, die ja nicht nur in Lateinamerika stilbildend gewirkt hat, sondern auch eine US-amerikanische Literaturkritikerin wie Susan Sontag zu Elogen hinreißen konnte, warum ist diese Art zu schreiben bis heute hierzulande auf so unfruchtbaren Boden gefallen?

Die Verschmelzung realistischer und unwirklich-mythischer Handlungselemente in einem experimentellen Erzählverfahren hat von wenigen Ausnahmen wie dem Werk von Leo Perutz (1882-1957), aber auch Günter Grass‘ Die Blechtrommel (1959) abgesehen erst in jüngster Zeit in der deutschsprachigen Literatur ein wenig an Bedeutung gewonnen. Hier ist vor allem Daniel Kehlmann zu nennen, der in seiner Epik mit Realismus und Magie auf ähnlich spannende und doch zugängliche Weise operiert wie Rulfo.

Umso glücklicher können wir uns schätzen, dass Pedro Páramo seit einigen Jahren schon in der wunderbaren Neuübersetzung von Dagmar Ploetz vorliegt, die ja unter anderem auch für ihre García Márquez-Übertragungen zurecht gefeiert wird. Hier ist jede Stimmung, jeder Tonfall glänzend getroffen; der Text fließt so natürlich und kraftvoll dahin, dass man kaum glauben mag, eine Übersetzung vor sich zu haben. Eine unbedingte Lese-Empfehlung, die man anschließend ruhigen Gewissens im Regal unter die Meisterwerke des 20. Jahrhunderts einsortieren kann, neben Kafka, Faulkner, Woolf und Borges.

Juan Rulfo: „Pedro Páramo“. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 170 Seiten, Taschenbuch. ISBN 978-3-518-46150-1.

2 Gedanken zu „Das Gemurmel der Toten“

  1. Was für eine unglaublich gute Besprechung zu „Pedro Paramo“! Ich liebe dieses Buch und den Magischen Realismus im Allgemeinen, und ich habe beim Lesen deiner Besprechung Gänsehaut bekommen.

    Liebe Grüße und danke für den schönen Text,
    Romy

    1. Hallo Romy! Wow, was für ein tolles Lob! Vielen Dank! „Pedro Páramo“ ist leider nicht so bekannt, wie er sein sollte. Ein wirklich grandioses kleines Buch.
      Liebe Grüße
      Julian

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