Ein Staat, der seinen Bürgern das Lesen verbietet. Eine Feuerwehr, deren Aufgabe es ist, verbotene Texte aufzuspüren und zu verbrennen: Ray Bradburys Dystopie Fahrenheit 451 ist besser als 1984 und leider immer noch ‚brandaktuell‘.
Es gibt ja durchaus Menschen, die der Ansicht sind, wem der Sinn nach Dystopischem stehe, der solle einfach die Nachrichten verfolgen. Und wenn es auch wahr ist, dass wir in unruhiger werdenden Zeiten leben, in denen mühsam erkämpfte Freiheiten infrage gestellt werden wie seit Jahrzehnten nicht mehr; wenn es wahr ist, dass eine gigantische digitale Ablenkungsindustrie immer mehr Lebenszeit verschlingt und echte zwischenmenschliche Bindungen allmählich durch ’social networks‘ ersetzt werden – ganz so schlimm, wie sich Ray Bradbury im Jahr 1953 die Zukunft ausgemalt hat, ist es dann doch nicht gekommen. Noch.
In seinem Roman Fahrenheit 451, dem dritten großen Klassiker der dystopischen Literatur neben Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells 1984 (1949), imaginiert Bradbury einen totalitären Staat, in dem Besitz und Verbreitung von Büchern unerlaubt und verpönt sind. Wer dennoch gegen dieses strikte Verbot verstößt, dem stattet die Feuerwehr einen Besuch ab. Deren Aufgabe ist es nicht, Brände zu löschen, sondern im Gegenteil, Brände zu legen. 451 Grad Fahrenheit (233 Grad Celsius) sind exakt die Temperatur, bei der Buchpapier Feuer fängt.
Wohlige Glücksversprechen
Statt der Flammen wird von der geheimpolizeilich agierenden Feuerwehr also das kulturelle Gedächtnis gelöscht, denn die Auseinandersetzung mit Bildung und Kunst jeglicher Art gilt in diesem dystopischen Amerika als schädlich. Wissen jenseits des rein Faktischen ist unnütz, auf die Dauer verdirbt es den Menschen. Wie so oft kommt die Diktatur im Mäntelchen wohliger Glücksversprechen daher. Statt sich zu bilden soll der Mensch lieber dauerhafte Ablenkung suchen und dem medialen Nonsens frönen.
Abgelenkt wird natürlich vom Wesentlichen, das heißt, vom Krieg, den dieser Staat mit seinen Nachbarn in aller Härte führt, und über dessen offenkundige Widersinnigkeit und Barbarei zu reflektieren man den Bürgern nicht zumuten möchte. Ständig donnern Düsengeschwader über die Städte, viele Männer sind längst zum Kriegsdienst eingezogen – und doch gehen die Bürger diesem Grauen außerhalb der Grenzen ignorant und desinteressiert aus dem Weg.
Im Mittelpunkt der Handlung steht der Feuerwehrmann Guy Montag, ein zunächst naiver und braver Exekutant seiner Institution. Er ist verheiratet mit Mildred, die der permanenten Zerstreuung vollkommen verfallen ist und jegliche Regung von Humanität in sich zu verdrängen versucht. Gleich zu Beginn des Romans schluckt Mildred eine Überdosis Schlafmittel – ob versehentlich oder beabsichtigt, bleibt im Unklaren –, die ihr in letzter Sekunde von einem eigens für derartige Fälle vorgesehenen mobilen Sanitäter-Team wieder aus dem Magen gepumpt wird. Schon am nächsten Morgen kann sie sich an nichts mehr erinnern und lebt ihr stumpfsinniges Leben einfach weiter, aber Ehemann Guy ist durch dieses Ereignis doch nachhaltig verstört.
Dazu kommen drei Begegnungen, die den Feuerwehrmann aus seinem Trott herausreißen und das System wie sein eigenes Leben darin plötzlich infrage stellen lassen: Eines Nachts trifft er auf das siebzehnjährige Nachbarsmädchen Clarisse, ein seltsames Geschöpf, das sich in dieser geistlosen Umwelt ein idealistisches Bewusstsein für die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens erhalten hat, für Naturschönheit und echte Empfindungen. Das Gespräch mit ihr stößt seine Veränderung an.
Dann erlebt er, wie sich bei einem seiner Einsätze eine Frau lieber mitsamt ihren unerlaubten Büchern verbrennen lässt, als ohne diese weiterzuleben. Heimlich lässt Montag ein Buch von dort mitgehen und versteckt es bei sich zuhause. Das hat er zwar schön öfter getan, nun aber geschieht es zum ersten Mal bewusst als Ausdruck seiner wachsenden inneren Rebellion.
Schließlich begegnet Montag zufällig dem alten Faber, einem ehemaligen Literaturprofessor, der eine Art Mentor für ihn wird und ihm nicht nur Wichtigkeit und Schönheit der Literatur näherzubringen sucht, sondern Montag auch darin bestärkt, das bisherige Leben radikal hinter sich zu lassen. Eine Konfrontation mit seinen Kollegen, besonders mit dem gerissenen Feuerwehr-Hauptmann Beatty, ist in der Folge natürlich genauso unvermeidlich wie die Auseinandersetzung mit der systemkonformen Mildred. Während Montag seine bisherigen sozialen und ideologischen Bindungen kappt, rückt die Katastrophe des Krieges näher und näher.
Anregung zum kritischen Nachdenken
Auch 65 Jahre nach seinem Erscheinen ist Fahrenheit 451 noch spannend und sehr gut lesbar. Ein makellos konstruiertes Sprachkunstwerk ist der Roman allerdings nicht. Zu gewollt sind oft die Metaphern, auf die der Autor, wie das Nachwort verrät, durchaus stolz war; zu sehr liegt das Gewicht auf der linearen Entwicklung des effektvollen Plots, so dass die vielen literarischen Verweise und Anspielungen letztlich nur Behauptung, nur glitzernde Oberfläche bleiben.
Das alles sind aber keine wirklichen Mängel, denn Bradbury geht es, wie schon Orwell, Huxley oder Margaret Atwood (Der Report der Magd) mehr als um sprachliche Finessen um eine politisch-gesellschaftliche Negativfolie, die zum kritischen Nachdenken über die Realität anregen will.
Die Warnungen vor einer geistfeindlichen Spaß- und Konsumgesellschaft waren um 1950, als die Massenmedien ihren unaufhaltbaren Siegeszug im kapitalistischen Westen antraten, durchaus originell und wurden, unter anderem von der Frankfurter Schule, heiß diskutiert. In den achtziger und neunziger Jahren erlebte dieser Diskurs einen Aufmerksamkeits-Höhepunkt (z. B. bei Neil Postman und Gerhard Schulze) und setzte sich noch bis in die Nullerjahre fort.
Seitdem haben die Diskussionen über die von der Kulturindustrie produzierten Ablenkungen allerdings etwas an Frische und provozierender Strahlkraft eingebüßt. Denn zum einen spricht man mittlerweile der Popkultur, in deren Nischen immer neue Subkulturen aufblühen, ein durchaus subversives Potential zu. Zum anderen scheinen heute für die liberale Demokratie die (vermeintlichen oder tatsächlichen) ‚Clashes of Civilizations‘ und das Wiederaufflammen von Nationalismus und Autoritarismus größere Bedrohungen darzustellen als eine vom Infotainment verblödete Spaßgesellschaft.
Mächtige haben Angst vor Lesern
Dennoch ist die Kernbotschaft des Romans immer noch relevant. Denn nach wie vor gilt, dass die Unterwerfung einer Gesellschaft durch skrupellose Macht da möglich wird, wo das Lesen und die Literatur gering geschätzt werden. Denn Meinungspluralismus und Demokratie kann es nur geben, wo selbstbewusste, reflektierende Individuen existieren, die nicht vorbehaltlos in den gleichförmigen und gleichgeschalteten Chor des Zeitgeistes einstimmen. Umgekehrt stellen Bücher, oder genauer: Bücher lesende Menschen, von jeher eine existentielle Bedrohung für totalitäre Ideologien jeglicher Couleur dar. Lesen ist von jeher für Ideologen und Propagandisten auch deshalb verdächtig, weil es der Separation von der lärmenden Masse bedarf, weil es Ruhe und geistige Freiheit einfordert – die wichtigsten Voraussetzungen kritischen Denkens. Sich in ein Buch zu vertiefen bedeutet, auf das Heulen mit dem Rudel zu verzichten und sich stattdessen verschiedenen Sichtweisen zu öffnen. Lesen ist Widerstand gegen Uniformität. Nicht umsonst haben die Mächtigen seit jeher Angst vor Lesenden. Beinahe überall und zu allen Zeiten existierten Indizes verbotener Bücher, wurden unliebsame Werke der Literatur verbannt und verbrannt – manchmal mitsamt ihren Autoren.
Wer liest, dringt tiefer als derjenige, der sich nur von vorgefassten und vorgekauten Meinungen nährt. Das gilt auch und gerade für die immer noch zu Unrecht verharmlosend ‚Belletristik‘ genannte Literatur. Romane, Erzählungen, Gedichte und Dramen können neue Perspektiven auf die Welt vermitteln, sie schicken den Leser in die abenteuerliche Begegnung mit dem gänzlich Anderen – das oft das eigene Selbst ist -, und bergen in sich die Möglichkeit, zunächst Fremdes und Unbegreifliches verständlich werden zu lassen.
Die wirklich große Literatur feiert das Uneindeutige und Multiperspektivische, sie meidet endgültige Festlegungen und weitet beständig den Raum für immer neue Lesarten und Interpretationen. Gibt es eine bessere Schule für den freien, offenen Geist?
Plädoyer für Gedankenfreiheit
Fahrenheit 451 spricht eine deutliche Warnung vor Tendenzen aus, die diese Freiheit zum eigenständigen Denken einschränken oder marginalisieren wollen. Man sollte sich hüten, diesen Kräften nachzugeben, ganz gleich, ob ihre Motive edel oder verwerflich klingen.
In einer Zeit, in der Rechtsextreme die Kulturförderung der Theater angreifen, weil sie ihr völkisches Denken auch auf den Bühnenbrettern inszeniert sehen wollen; in der Gedichte von Häuserwänden getilgt werden, weil sie bei einigen wenigen Anstoß erregen oder US-Colleges Meisterwerke der Weltliteratur wie Mark Twains Huckleberry Finn oder Harper Lees Wer die Nachtigall stört von den Leselisten verbannen, weil deren Sprache heute nicht mehr politisch korrekt genug erscheint – da sollten wir Bradburys Roman sehr genau und gründlich lesen. Denn niemals sind Unterdrückungen und Zensierungen gerechtfertigt, auch wenn das natürlich bedeutet, gelegentlich Unliebsames aushalten zu müssen. Freiheit gilt immer nur dort, wo sie die Freiheit des Andersdenkenden umfasst.
Auf seiner Flucht aus dem Machtbereich der totalen Herrschaft begegnet Bradburys Held Guy Montag schließlich einer Gruppe von Dissidenten. Es sind passionierte Leser, die ihre einzige und letzte Aufgabe darin sehen, die von der endgültigen Vernichtung bedrohten Texte auswendig zu lernen und so für eine vielleicht bessere Zukunft zu erhalten. Das ist der wohl wichtigste und auch schönste Gedanke des Romans: Dass sich Papier zwar verbrennen lässt, die Inhalte der Bücher aber weiterleben, solange es verständige und gewissenhafte Leser gibt. Denn nicht die bedruckten Seiten sind das Entscheidende, sondern was wir uns von ihnen vermitteln lassen und bewahren.
Ray Bradbury: „Fahrenheit 451“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger. Mit einer neuen Einleitung und einem Nachwort von Ray Bradbury. Diogenes Verlag, Zürich 2008. 240 S., Taschenbuch, ISBN 978-3-257-20862-711.